Nazigold
ihr
geworden? Lebt sie noch in Mittenwald? Hat sie doch die Metzgerei ihres Vaters
übernommen?
Obwohl er nun schon vierzehn Jahre verheiratet ist, hat Gropper
Wilma nie vergessen. Er liebt sie noch immer. Davon ist er überzeugt.
Plötzlich drängt es ihn nach Mittenwald – zu Wilma. Sie ist ihm nun
wichtiger als dieser Fall Nafziger. Also auf nach Mittenwald.
2
»Drive carefully! Death is so
permanent!«
Amerikanisches Transparent zur Verkehrssicherheit.
Sieben Jahre war er weg. Jetzt ist er
wieder da. Der Bahnhof sieht noch genauso aus wie damals, als er von hier mit
Luise nach St. Gallen abhaute. Auf den Bahnsteigen tragen immer
noch die kunstvoll verzierten Säulen aus Gusseisen die geschwungenen, schmalen
Dächer. Gropper steigt die Treppen hinab, durchquert den leicht nach Urin
stinkenden Tunnel unter dem Gleis und geht auf der anderen Seite die Treppen
wieder hoch. Früher liefen viele einfach quer über das Gleis, was natürlich
verboten war. Große Schilder verbieten das auch heute noch. Beim Vorübergehen
am eisernen Geländer streift er wie früher mit den Fingern an den klingenden
Gitterstäben entlang und gibt dem Fahrkartenkontrolleur in seiner alten
Reichsbahnuniform das braune gelochte Pappebillett. Dieser schaut streng auf
das Datum und wirft es in die Blechtonne mit der Aufschrift »United Oil« neben
ihm. Über dem Kontrolleur verkündet an der Bahnhofswand das alte
Stationsschild: »Mittenwald«. So wie früher.
Die Schalterhalle ist voller lärmender Menschen. Hier herrschte
immer schon dichtes Gedränge. Doch früher waren es Touristen aus dem ganzen
Reich mit ihren teuren Lederkoffern und Hutschachteln oder Skigarnituren,
bedrängt von feilschenden Gepäckträgern. Touristen, die hier ihren Sommerurlaub
verbringen oder im Schneeparadies ihre Künste auf der Piste zeigen wollten. Nun
sind es müde, ausgehungerte, zerlumpte menschliche Wracks, die aussehen, als
hätte sie ein Mülltransporter von der Ladefläche gekippt. Ihr Gepäck besteht
aus zugeschnürten Kartons, löchrigen Jutesäcken und Bündeln, zusammengewickelt
aus schmutzigen Betttüchern. Auf dem mit Dreck übersäten Kachelboden liegen die
Menschen in der Mitte der Halle und in den Ecken, zugedeckt mit stinkenden
Pferdedecken oder nur mit Zeitungen, gedruckt in Sprachen, die kaum einer
versteht.
An der großen Sperrholzwand neben der Gepäckaufbewahrung haften
Hunderte von Zetteln. Reißnägel und Leukoplastkleber halten die Papierfetzen,
auf denen mit Bleistift oder Tintenstift krakelig geschrieben steht: »Suche
Kochherd. Biete Trauring. Hertl, Mittenwald. Im Gries 8.« – »Petrowitsch
Hoog, wo bist du? Wir sind in der Turnhalle Dammkarstraße!« – »Fräulein, Anfang 30,
gute Erscheinung, sucht Lebenspartner in der Lebensmittelbranche. Briefe unter
A 3 postlagernd, Mittenwald.« – »Wer kann Auskunft geben über Obgfr. Joh.
Löffler? Feldpost-Nr. 24 826 E. Vermisst seit 20. Nov. 1944
südl. Belgrad. Um Nachricht bittet Margit Löffler, Mittenwald,
Matthias-Klotz-Str. 23.« – »Biete Herren-Lederhosen, getr., Bundweite 95 cm.
Suche Kinderbett und elektr. Bügeleisen 220 Volt. Elfriede Vogt,
Mittenwald, Innsbrucker Str. 56.«
Gropper tritt heraus auf den Bahnhofplatz. Da steht mit einem Schlag
die Erinnerung vor ihm an das, was ihm seine Schwester Theres erzählt hat. Nach
seiner Rückkehr aus der Schweiz hat sie ihn und Luise in Gauting besucht und
ihnen berichtet, was hier direkt nach Kriegsende los war. Theres ist damals in
Mittenwald geblieben und hat das Chaos miterlebt. Sie haben auch oft darüber
telefoniert. Noch deutlich hat er ihre Stimme und ihre Schilderungen im Ohr.
Tagelang strömten Kolonnen flüchtender Wehrmachtssoldaten und SS -Einheiten durch den Ort. Ihre Waffen hatten sie in
Seen oder in die Isar geworfen. An ihren Leibern hingen verdreckte und
zerfetzte Uniformen. Viele humpelten ohne Stiefel, die Füße nur mit Tüchern
umwickelt. Häufig fehlte ihnen ein Bein oder ein Arm; die Augen waren leer,
leer auch schon seit Langem ihre Dosen für die Marschverpflegung. Überholt
wurden sie von Wehrmachts-Lkws, bis unter die Plane vollgeladen mit
Nahrungsmitteln, in letzter Minute geraubt aus Depots. Für alle galt nur das
eine: die Flucht in die Alpen.
Nach ihnen kamen Massen von Flüchtlingen aus Schlesien und dem
Sudetenland. Ihre Pferdefuhrwerke waren vollgeladen mit Koffern, Kisten, Säcken
und Haushaltsgeschirr, mit alten, kranken Menschen und mit kleinen Kindern. Die
Handkarren
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