Neal Asher - Skinner-Der blaue Tod
Kapitel 1
In jedem belebten Ozean eines jeden Planeten findet man Kreaturen, deren Schicksal integraler Bestandteil der gastronomischen Freude anderer … Kreaturen ist. Boxys könnte man genauer als Lunchpakete beschreiben, denn das war der Zweck, dem sie im Meer dienten – und sie wussten das! Die Boxys ernährten sich von gelegentlichen Schwärmen bösartigen Planktons – darin zu schwimmen, hätte ein Mensch als Bad in zermahlenem Glas empfinden – sowie den verstreuten Überresten der zahlreichen übrigen Geschöpfe, die zu irgendeiner Zeit immer mal als Hauptmenü dienten. Bei der Futtersuche zogen die Boxys mit hoher Geschwindigkeit und einer Art nervöser Entschlossenheit ihre Bahn. Nur durch diese kontinuierliche Fortbewegung konnten sie die Häufigkeit von Blutegelattacken auf ihre empfindungslosen Außenkörper senken. Nur rasche Fortbewegung ersparte ihnen die Sichelbeine der Prill und die Sägeklauen der Gleißer oder gar die Mäuler größerer Blutegel, von denen sie gleich komplett verschluckt wurden. Die erfolgreiche Überlebensstrategie einer ganzen Spezies erwies sich jedoch nicht immer ab gleichermaßen erfolgreich für jedes ihrer Individuen: ein Boxy-Schwarm wuchs mit jedem Zuwachs aus den Eigelegen an den Stielen des Seerohrs und schrumpfte mit jedem Angriff eines hungrigen Raubtiers; somit war Altersschwäche keine verbreitete Todesursache im Schwarm.
Der Reifi nippte durch einen Glasstrohhalm von seinem klaren Getränk und schien sich auf einen Punkt hinter seinem Begleiter zu konzentrieren, irgendwo auf die Mitte der Wand gegenüber. Erlin vermutete, dass er mit dem Getränk gerade eines der zahlreichen chemischen Konservierungsmittel zu sich nahm, die verhinderten, dass ihm das Fleisch von den Knochen fiel. Der Mann, der sich eben zu ihm gesellt hatte, saß mit dem Rücken zu Erlin, und sie bemerkte jetzt, dass etwas auf seiner Schulter hockte. Als dieses Etwas zu einem Rundflug durch den Raum abhob, war sie fasziniert. Es handelte sich um ein Insekt von der Größe eines abgeschnittenen Daumens, und die Flügel erzeugten ein lautes Brummen in der gedämpften Atmosphäre der Shuttle-Lounge. Der Mann war offenkundig an eine Schwarmintelligenz gebunden, denn die fliegende Kreatur musste eine Hornisse von der Erde sein – die Augen einer Schwarmintelligenz. Was zum Teufel konnte einen Reifi und einen solchen Mann hier zusammengeführt haben? Erlin hob ihre Kaffeetasse auf und spazierte zu ihnen hinüber, bis sie eine Verdichtung der Luft und ein vages Gefühl der Desorientierung spürte und zunächst stockte.
Von einem Schritt zum anderen bemerkte Erlin, dass das Sicherheitsfeld ausgelöst worden war: ein unruhiger Eintritt in die Atmosphäre. Ihrer Erfahrung nach lief es jedoch von diesem Punkt an kontinuierlich noch rauer. Sie blickte kurz zu den Fenstern hinaus, die in einem Winkel von 45 Grad zum Rand der Lounge lagen. Das Shuttle kreiste inzwischen über der Bienenwabe, bei der es sich um die Polis-Basis auf der Insel Chel handelte; Erlin konnte erkennen, wie das Meer sich in konzentrischen Ringen aus diversen Grünschattierungen, ähnlich gespaltenem Achat, rings um die Insel ausbreitete. Die See dort unten lag ruhig. Der Grund für die Auslösung des Sicherheitsfelds musste also einer der zahlreichen Stürme sein, die in den dichten oberen Wolkenschichten tobten. Als Erlin endlich den Tisch erreichte, konzentrierte sie sich ganz auf das dort sitzende Paar.
»Macht es Ihnen was aus, wenn ich mich dazusetze?«, fragte sie.
Der Reifi zeigte kaum eine Reaktion, aber der Mann lächelte sie an und deutete auf einen freien Platz. Er sah nicht schlecht aus, fand Erlin, und er wirkte freundlich; aber andererseits war er auch nicht der Mann. Ihr Mann war irgendwo auf dem Meer dort unten. Sie stellte ihren Kaffee auf den Tisch, zog den Stuhl hervor, drehte ihn und setzte sich rittlings darauf, die Unterarme auf der Rückenlehne.
»Ich wüsste zu gerne, was eine Reifikation hier suchen könnte – und jemand, der an eine Schwarmintelligenz gebunden ist.« Erlin fiel auf, dass der Mann die Stirn runzelte. Sie musterte interessiert erst den einen, dann den anderen, und blickte schließlich zu den übrigen Passagieren in der Lounge des Landungsbootes hinüber. Man konnte deutlich sehen, dass Angst oder Abscheu die Menschen auf Distanz zu dem Reifi und seinem Gefährten hielten, und Verlegenheit breitete sich wie ein Sargtuch über die allgemeinen Gespräche. Viele der Fluggäste
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