Wohin sind wir unterwegs
VOLKER BRAUN
Totenrede
Sie starb ruhig, ohne Schmerzen. Ihre große Familie war um sie versammelt. Kein Kampf, sie willigte wohl in den Abschied. Sie hatte noch einmal die Augen weit geöffnet, sie schien in die Ferne zu sehn. Die Züge im Tod entspannt, ein Lächeln umlief sie. Das Gesicht glatt; sie sah schön aus .
Es war ein trüber Tag. Das Bild, das sie in der Minute ihres Todes sehen wollte: der Himmel über der mecklenburgischen Landschaft, blau grundiert, Kumuluswolken, Wolkenstreifen darüber. Der Kirschbaum mitten auf der Wiese, der trotz der Kälte blüht. Das sanfte, heitere Licht. Ihr Leben wäre erlöst.
Ich kannte sie in jungen Jahren: hochgewachsen, und am Ende in ihrer Erdenschwere.
Jetzt, da ihr Leib in die Erde kommt, und alles fällt von ihm ab, was ihn anstrengte – denn er trug ihr Schreiben mit, reflektierte es, und sei es, daß die Gelenke blockierten –, jetzt denke ich daran, daß sie in einer großen Not über den Ozean anrief: Mein Körper entfernt sich von mir. So wie sich die Zeit entfernt! Es war die Angst, sich selbst zu verlieren. – Sie war aber diese Eine, Ganze, die mit allen Fasern lebte und nach sich selber fragte. Sie hatte die Kraft.
Wer sie ist, das wollte sie immer wissen. Das Kaufmannskind von der Warthe, die seßhafte Autorin ander Spree. Sie mußte danach fragen in der Zeit des Kriegs, der Flucht, in Aufbauepochen und Abrißjahren. Die Hoffnungsvolle, Zweifelnde. »Nimm alles nicht so schwer«, sagte die Mutter zu ihr, und so hat auch Anna Seghers zu ihr gesprochen. Doch als einmal in einem Trinkspruch allen wenigstens noch ein Leben gewünscht wurde, dasselbe Leben noch einmal, sah sie die Seghers erschrecken, die Jüdin, die Kommunistin, die Exilantin. – Christa Wolf konnte sagen: Ich wollte kein andres Leben als das.
Sie war oft krank, oft erschöpft von Streit, aber sie hatte den Halt an den Ihren. Ihr gütiger, kluger Mann. Die Kinder, der Alltag, der 27. September . Es war ein liebevolles, tätiges, reiches Leben, und sie gab davon ab, wenn einer Mut brauchte oder einen Mantel. Wie frei, unbefangen, herzlich war unser Gespräch, und von dem Ernst, mit dem man Lieder singt. »Dat du min Lewsten bist / dat du woll weeßt«. Es wurde in ihrer Nähe alles weit. Sie ließ sich nicht einschränken in das gebremste Leben . Die Nachmittage mitunter / In Meteln, Pinien- / Duft! Atmende / Fern von Troja://Auf auf zum Kampf / Ihr Waffenlosen.
Man warf ihr das Hierbleiben vor: die doch so weit fortging, bis in die Mythenwelt, in uralte Geschichte, an die Wurzeln des Unglücks, auf den Grund. Das war ihr fraulicher Mut. Sie ging bis an die Grenze, an der man sich selbst als Fremder entgegenkommt. Sie wagte diesen Gang. »Nimm dein Verhängnis an. Laßalles unbereut.« In welchem Spannungsfeld stand sie. In dem gespaltenen Land, der zerrissenen Menschheit, zwischen Tat und Enttäuschung. Der selbstgewisse Westen war nicht die Alternative. Sie sah nicht hier noch dort den Staat, der lernt, und Gemeinsinn übt, den Einspruch gegen das Ganze.
Sie blieb nach dem Umbruch voll Neugier, die Spottlust ungestillt, und das Nachdenken über alles. Ein Fassungbewahren in der Großen Verwerfung. Ernüchterung: blieb ihr Zauberwort. Sie hat der deutschen Literatur wie wenige Würde und Weltbewußtsein gegeben.
An ihr, der Kenntlichen, rieben sich die Debatten. In ihr Fleisch schnitten die Schmähungen ein. Irrtum, Verstrickung: wir hätten uns, West und Ost, etwas vorzurechnen? Ogott! nie waren wir so, wie heute, verstrickt, verirrt, in demokratische Kriege, die Jahrmarktwirtschaft, sinnentleerte Vernunft. – Wie vornehm haben wir uns betragen gegen die Siegergewißheit.
Den 80. feierte sie heiter in drei Pankower Stuben, es wurde wieder gesungen, getafelt, die Enkel haben das Fest bereitet. Es war etwas aufgegangen. Das hatte diese Gesellschaft doch vermocht, das Hinnehmen, Dulden, Einrichten ins Unannehmbare aufzukündigen. Es ist ein Kapitel, dem andere folgen, aber zu dem man zurückblättern wird.
»Je älter man wird, desto mehr braucht man Freunde wie Euch« ... nun fehlt sie so je so mehr. Das Urteil der andern, der Nachwelt haben wir nicht in der Hand, ließ sie die Günderode sagen. »Aber alles, was wir aussprechen, muß wahr sein, weil wir es empfinden.« Das war weit entfernt von Brechts List, die Wahrheit zu sagen; der V-Effekt: daß sie nun nah beieinander liegen.
Auch Anna Seghers kam hier an, mit militärischem Ehrenbegräbnis. Draußen vor dem Eisentor,
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