Nebelsphäre - haltlos (German Edition)
„Ich sollte dich jetzt wohl besser nach Hause bringen, was? Natürlich kannst du auch gern bei mir übernachten, wenn du möchtest“ , fügte er hoffnungsvoll in Gedanken hinzu.
Sie lächelte und entgegnete: „Hierbleiben hört sich gut an… Aber das würde es nicht gerade leichter machen, unsere Beziehung geheim zu halten, oder?“
Sie sahen einander innig in die Augen. Beide hatten ihre Gedankenfenster weit offen und spürten jeweils das Bedauern des anderen.
8. Vorhang zu!
Am nächsten Morgen stand Victoria erst um elf auf. Sie fühlte sich total erschöpft und hatte einen Muskelkater im Kopf. Die beiden letzten Tage erschienen ihr heute Morgen unwirklich – so, als hätte sie nur geträumt und könnte jetzt alles vergessen und in ihr altes Leben zurückkehren.
„Mein Verstand scheint die Normalität echt nicht aufgeben zu wollen…“, murmelte sie vor sich hin. Wäre alles nur ein Traum, dann wäre alles so einfach. Es gäbe nur ihre Familie, ihre Freunde und die Mathematik – fertig und aus die Maus.
„Ach, nachdenken ist jetzt zu anstrengend. Dafür bin ich echt viel zu platt. Ich tu einfach erst mal so, als sei alles wie immer.“
Sie machte sich kurz frisch und ging in die Küche.
Als ihr Mitbewohner sie rumoren hörte, steckte er seinen blonden Kopf durch seine Zimmertür. J hatte zwar schon früher gegessen, wollte ihr aber mit einem Becher Tee Gesellschaft leisten.
Sie musste grinsen. Bestimmt war er neugierig und wollte wissen, was Jaromir und sie gestern gemacht hatten.
Puff! – da war die Seifenblase auch schon zerplatzt. „So viel also zu meinem genialen Plan, so zu tun, als hätte ich nur einen krassen Traum gehabt… Aber wenn das so ist, dann kann ich auch gleich sehen, ob ich mit meiner Vermutung recht habe…“
Sie musste sich regelrecht dazu aufraffen, ihren Geist auf Wanderschaft zu schicken. J’s Gedankenmuster fand sie zum Glück auf Anhieb. Sein Gesichtsausdruck passte genau zu dem, was sie hinter seinen Gedankenfenstern sah.
Sie dachte: „Ach, mein lieber Mitbewohner kann ruhig noch ein wenig zappeln“ , und sagte laut: „Sag’ mal J, haben wir noch irgendwo Zimttee?“
Er war eindeutig irritiert: „Ähhh, keine Ahnung – vielleicht steht hinten im Regal noch was von Weihnachten. Ich schau mal nach… Was will Vici denn jetzt mit Zimttee? Draußen ist der Frühling in vollem Gange und sie will Weihnachtsgewürze? Der gute Professor scheint sie ja ein wenig durcheinanderzubringen…“
J fand tatsächlich noch einen kleinen Rest und Victoria schmiss wortlos den Wasserkocher an. Dann holte sie sich in aller Ruhe ihre Frühstückssachen raus und setzte sich hin.
J wurde in der Zwischenzeit ganz hibbelig und fragte sich permanent, was denn gestern bloß passiert sei, dass sie heute Morgen so schweigsam war. Noch traute er sich aber nicht zu fragen.
Als er ihr den Becher mit dem frisch aufgegossenen Zimttee in die Hand drückte, hielt er es nicht mehr aus. „Und? Wie war‘s gestern?“
Sie nahm einen großen Schluck Tee – „Ahh, das tut wirklich gut“ – und antwortete: „Anstrengend.“
Das war offenbar die falsche Antwort gewesen, denn J’s Gedanken überschlugen sich geradezu und waren nun alles andere als jugendfrei. Sie musste sich extrem beherrschen, nicht laut loszuprusten.
Diese Gedankenleserei konnte ja wirklich Spaß machen. Sie nahm noch einen Schluck Tee, genehmigte sich ein mildes Lächeln und sagte verächtlich: „Nicht was du jetzt schon wieder denkst, J! Wir haben Mathematik getrieben!“
Der Film in J’s Kopf wurde abrupt gestoppt und machte einem großen, fassungslosen Fragezeichen Platz.
Victoria sah J an. „Er hat mir die Geometrievorlesung für Montag gezeigt. Wir haben Lehrsätze diskutiert und Beweise durchgesprochen.“
J war verwirrt und meinte ungläubig: „Jetzt verarscht du mich aber!“
Sie blieb vollkommen ernst – immerhin sagte sie ja die Wahrheit – und erklärte: „Nein, das haben wir tatsächlich gemacht und ich muss sagen, es war wirklich interessant. Mathematik ist einfach spannend und die Geometrie ist dann auch noch so anschaulich!“
J war mit dieser Antwort völlig überfordert. „Die Mathematiker sind ja echt bekloppt! Welcher normale Mensch würde bitte bei seinem zweiten Date eine Vorlesung durchsprechen???? Hallo! Ich fass es nicht. Die sind doch total bescheuert!“
Jetzt musste Victoria lachen. „Keine Angst, wir haben nicht nur über Mathematik geredet. Wir haben auch sehr lecker
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