Neben Der Spur
Zum Vorschein kommen Prospekte mit bauchigen Buchstaben, Fotos dampfender Terrinen, serviert von Großmüttern mit Haardutt und Übergewicht. Klischees satt. Als Bestechungsgeschenk liegt eine Tüte Grünkern-Creme-Suppe bei, mit Bio-Logo und dem Versprechen: Schmeckt wie bei Muttern.
Karo muss an den Leguan denken. Sollen sensible Tiere sein. Die können vor Trauer und Heimweh sterben, hat sie mal gelesen. Man könnte so einem Artikel eine tragische Note geben. Und die Anwohner mobilisieren, das Viech zu suchen. Vielleicht ist das Thema ja noch vakant. Tauschen? – Unmöglich nach dem Abgang vorhin!
Karo stopft schicksalsergeben die Prospekte zurück in die Tasche. Immerhin viel wortreiches Material. Damit kann sie ein paar Druckzeilen extra schinden. Und die Grünkernbrühe ersetzt vielleicht eine Mahlzeit. Karo studiert die Nährwertangaben auf der Packung: 58 Kilokalorien auf 100 Milliliter. Das ist gerade noch okay. Sie packt die Tütensuppe in die Schreibtischschublade zu den Portionstütchen ihres Diät-Eiweiß-Shakes, mit dem sie gelegentlich ihren knurrenden Magen besänftigt, greift ihre Schultertasche mit dem Smartphone, der Kamera und zieht los.
Mit dem ÖV zum Waldfriedhof käme einer Weltreise gleich. Also der Golf. Karo will früh da sein, das Umfeld ausspähen, dem alten Herrn schon vor der Veranstaltung ein paar Sätze abluchsen oder einen redseligen Firmenmitarbeiter finden. Vielleicht ergibt sich doch noch eine ungewöhnliche Geschichte, ein dreispaltiges Porträt. Thema: Lebenslange Gesundheit durch Gemüsebrühwürfel und Grünkernsuppe. Krass, aber finanziell einträglich.
Karo kurvt aus der Parklücke, verlässt das Verlagsgelände in Richtung Norden und überlegt sich, was man einen Hundertjährigen fragen könnte. ›Gibt es etwas, was Sie in Ihrem Leben gern anders gemacht hätten?‹ Originell ist das nicht. Und die voraussichtliche Antwort meistens auch nicht. ›Was hat Sie auf die Idee gebracht, Suppenwürze zu produzieren? Was empfinden Sie, wenn Sie eine Tütensuppe aus eigener Produktion auslöffeln?‹ Sprachspiel inklusive: ›Was man sich eingebrockt hat‹ … Und dann: ›Warum haben Sie nie geheiratet?‹ Eine vordergründig freundliche, in Wahrheit gemeine Frage. Vielleicht überführt die Antwort den Alten prompt als verkappten Homo. Ha, und dann die Schlagzeile: ›Coming-out mit hundert!‹ Oder die Antwort verrät den Beziehungslegastheniker, den Frauenhasser, den impotenten Waschlappen, den nie eine wollte. Dann muss Karo nachhaken, provokant bleiben. Weil böse Mädchen überall hinkommen. Und Karo hat ein großes Ziel, sie will ins Impressum. Unter Redakteure soll ihr Name stehen: Karoline Rosenkranz, Klammer auf, Lokales, Klammer zu. Ein festes Gehalt will Karo natürlich auch – über Tarif. Und ein dreizehntes Monatsgehalt.
Darauf nimmt sie noch einen tiefen Zug aus ihrer Colaflasche. Prosit!
Die Ampel für Linksabbieger zeigt Gelb, droht Rot an, zeigt Rot … Es ist ein ausgesprochen schlechtes Omen, anhalten zu müssen, wenn man gerade über seine Karriere sinniert. Also gibt Karo Gas. Sie will es schaffen, sie wird es schaffen. Rechts von ihr düst ein schwarzes BMW-Cabrio heran, rammt fast das Hinterteil ihres Wagens. Im Rückspiegel wiegt sich abschätzig ein Schumikinn.
Mist! Karo ist die Colaflasche ausgelaufen. Auf der Jeans macht sich ein zartbrauner Fleck breit, schickt einen süß duftenden, aber wenig ästhetischen Priel das linke Hosenbein hinab. Mit Colaflecken auf der Kleidung kann man zu keiner Pressekonferenz, erst recht zu keiner über den Erfinder des feinen Geschmacks der Natur. Karo muss also erst nach Hause, sich umziehen. Was andererseits kein großes Problem ist, denn, um in ihre Wohnung in der Neustadt zu kommen, ist nur ein kleiner Umweg nötig.
Sie wechselt die Fahrbahn, diesmal mit höchster Aufmerksamkeit, und steuert in den Kaiser-Wilhelm-Ring, wo manchen Dachgeschossbewohner wie Karo ein erhabener Blick auf das Stadtviertel für das ganztägige Verkehrsrauschen entschädigt.
Karo beeilt sich, hechtet die Treppe hinauf, versucht, sich zu erinnern, wo sie die schwarze Chintzhose abgelegt hat, die gut zum ketchuprot geflammten Shirt passt und noch halbwegs sauber sein dürfte …
Ein kratzendes Geräusch vom obersten Stock her. Sie hält inne, lauscht, geht zögernd weiter. Auf der letzten Stufe, wenige Schritte von ihrer Wohnungstür entfernt, hockt Mira, die achtjährige Tochter ihrer Nachbarin Bea, voll und ganz damit
Weitere Kostenlose Bücher