Neben Der Spur
beschäftigt, unkenntliche Schriftzeichen in ein kariertes Schulheft zu malen.
»Mira! Süße! Wie kommst du denn hierher?« Karo schwatzt drauflos, erzählt von ihrem Beinahe-Unfall, von dem Fleck auf der Jeans – auch wenn sie weiß, dass sie keine Antwort bekommen wird, nicht mal einen aufmerksamen Blick oder eine verständige Geste. »Autismus … schwere Form …«, hat Bea gesagt und ihre Leidensmiene aufgesetzt, kurz nachdem Karo eingezogen war und erstmals auf Mira traf. »Weißte, was das heißt: Au-tis-mus?«
Karo hatte genickt, obwohl sie kaum eine Ahnung hatte. Manche Dinge lässt man sich besser vom Internet erklären. Da ist von angeborener Behinderung die Rede, von tief greifender Störung der Wahrnehmung und der sozialen Interaktion, von der Unfähigkeit, zwischen Personen und Dingen zu unterscheiden, von Überempfindlichkeit der Sinne …
Seit einigen Jahren lebt Mira in einem Heim für geistig behinderte Kinder, weil Bea, Teilzeitjunkie und Hartz-IV-Empfängerin, sich nicht verlässlich um ihre Tochter kümmern kann. Und Miras Erzeuger sich mit einer Überdosis komplett aus dem Kleister gemacht hat. Ab und zu am Wochenende, wenn Bea glaubt, gut drauf zu sein, kommt Mira zu Besuch. Was normalerweise bedeutet, dass das Kind sich bald aus Beas in Karos Wohnung herüberstiehlt, um sich stundenlang mit Planetariumswebseiten zu beschäftigen.
»Sorry, Schätzchen, heute stehen die Sterne schlecht für uns zwei«, sagt Karo. »Gehst zu deiner Mama, okay? Ich hab nämlich einen Außentermin.« Sie klingelt an Beas Tür. Klingelt noch einmal, klopft. Die Tür bleibt zu. Entweder Bea ist wieder auf der Kiffermeile in Frankfurt oder irgendwo im Nirwana unterwegs.
Und jetzt? – Montagvormittag ist ein verrückter Besuchstermin, fällt Karo auf. Vielleicht eine Verwechslung? Bestimmt hat ein Heimbetreuer Mira irrtümlich hergebracht und abgesetzt. »Na gut, Süße, wir gehen erst mal zu mir. Du kennst dich doch aus, nicht wahr?«
Mira erhebt sich wie eine Schlafwandlerin, stapft in Karos Wohnung, scheint wie magisch vom Fenster in der Arbeitsecke angezogen. Das Schulheft mit den seltsamen Zeichen hat sie achtlos auf den Boden fallen lassen.
Karo nimmt es, betrachtet es. »Da hast du aber was Hübsches geschrieben, Mira! Du willst mir nicht verraten, was das heißt, oder?«
Mira drückt ihre Nase am Fenster platt.
Karo schaltet ihr Notebook ein, googelt Miras Heim, notiert sich die Telefonnummer und ruft an: »Mira Schäfer hockt allein hier im Treppenhaus. Ihre Mutter ist nicht zu Hause. Das Kind ist jetzt bei mir, Rosenkranz, die Wohnung gegenüber. – Was sagen Sie? Ausgebüxt? Kann ich mir nicht vorstellen … Egal, ich muss dringend zu einem Termin. Holen Sie sie bitte sofort ab. Notfalls mit Blaulicht.« Karo drückt die Auflegentaste, bevor sich der Heimmensch eine dumme Ausrede einfallen lassen kann. Dann stellt sie sternklar.de auf ihrem Laptop ein und überlässt Mira die Tastatur.
Die Kleine bedient lieber die Maus und surft binnen Sekunden zu Google Maps, klickt sich von nah nach fern, von Hongkong nach Moskau …
»Aha, du hast eine neue Lieblingsseite«, lacht Karo und geht, sich umziehen.
Es dauert eine verdammte Ewigkeit, bis es an der Tür klingelt, zwei Pfleger erscheinen, die die aufkreischende Mira mit ein paar Handgriffen bändigen.
»He, was machen Sie da? Das Kind ist doch extrem berührungsempfindlich«, schreit Karo. »Nehmen Sie eine Decke oder so was, um sie einzuwickeln. Das erträgt sie besser.« Sie reißt ein Badelaken aus ihrem Schrank, schleudert es den Wärtern hin. Umsonst. Die schieben das wimmernde Mädchen im Schwitzkasten die Treppe hinunter.
Karo ist wütend. Auf die Wärter. Auf sich. Warum hat sie nicht wenigstens versucht, Mira selbst zurückzubringen?
Mit pechschwarzen Chintzhosen und noch schwärzeren Gefühlen steigt Karo zurück in den Golf. Die Uhr am Armaturenbrett zeigt Viertel vor zwei. Das wird knapp bis zur Pressekonferenz. Ach, egal! Bevor nicht alle Honoratioren begrüßt sind, passiert sowieso nichts. Wenn sie einigermaßen durchkommt, schafft sie es bis zur Laudatio des Oberbürgermeisters. Außerdem dürfte in spätestens drei Stunden alles komplett im Internet sein. Bleibt genug Zeit, um abzuschreiben. Ein paar gedrechselte Formulierungen dazu und Lokalchef Löffler wird zufrieden sein . »Du lieferst uns oft die Butterstreusel auf unserem ansonsten trockenen Kuchen«, hat er neulich gesagt. Neulich? Vor einem halben Jahr war das!
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