Nebenweit (German Edition)
Erwachsenwerden vorbereitete hatte, Ala Belotrix. Die Druidin hatte sie durch die endlosen Litaneien geführt, die die Geschichte ihres Stammes darstellten.
Jene Tradition reichte bis in graue Vorzeiten zurück, als ihr Clan auf der Insel im Norden die Heimsuchungen überlebt hatte: zuerst die Faust der Götter, die die Erde erschüttert hatte, dann das Feuer, das vom Himmel gefallen war, später den Schwarzen Tod, der fast alle Überlebenden dahingerafft hatte. Die Seuche hatte nahezu die ganze Insel entvölkert und dann alle paar Hundert Monde erneut zugeschlagen. Heute, viele Stäbe nach Ausbruch der Seuche und bald siebzig Stäbe nachdem die Ältesten beschlossen hatten, die Insel zu verlassen und auf zerbrechlichen Booten die Fahrt übers Meer nach Süden zu wagen, ins Land der Gallier, wie es in der Überlieferung hieß, schien der Zorn der Götter sich gelegt zu haben. Seit fünf Generationen war niemand mehr an der Seuche erkrankt. Der Clan hatte zu wachsen begonnen und sich im Tal der Sena ausgebreitet, hatte seine Felder im Wechsel der Jahreszeiten bebaut und begonnen, Kornspeicher anzulegen. Die Zahl der Weisen Männer und Frauen hatte zugenommen und diese gaben sich alle Mühe, den Angehörigen des Clans die Geschichte ihrer Vorfahren nahezubringen. Sie sandten Kundschafter in alle Himmelsrichtungen aus, um aus den Überresten der untergegangenen Völker zu bergen, was erhalten und noch verwertbar war. Doch hatten sie hundert Tagereisen weit nur Ruinen vorgefunden – aber keine Menschen.
***
»Du hast wirklich in deinem Traum Hunderte von Menschen an einem Ort gesehen und ihre Stimmen gehört, Kind?«, wollte die Weise Frau wissen. »Mehr, als unser ganzer Clan ausmacht? Du täuscht dich auch ganz gewiss nicht? Und hast auch nicht vor dem Einschlafen von dem Saft getrunken, der die Sinne verwirrt?« Die weißhaarige Frau saß Artix gegenüber auf dem festgestampften Boden ihrer Hütte, nur in ein wollenes Tuch gehüllt, ohne die Symbole ihrer Druidenwürde, und starrte ihr Gegenüber aus kohlschwarzen Augen durchdringend an, als könne sie die Wahrheit aus ihr heraussaugen.
»Ja, ich habe sie gesehen und gehört, als stünde ich daneben«, schluchzte Artix. »Es war schrecklich. Der Mann mit der Kapuze hielt der Menge den abgeschlagenen Kopf hin, von dem noch das Blut tropfte …« Die Stimme versagte ihr, und die Weise Frau legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter.
»Ich gebe dir einen Trank aus Kräutern mit, trink den am Abend, ehe du dich schlafen legst, der sollte die Träume vertreiben.« Sie begann, in einem Korb zu kramen, um Artix schließlich ein mit Werg verschlossenes Tongefäß zu reichen. »Vielleicht hilft dir das.«
***
Diesmal war der Platz um das Gerüst fast leer, es war noch früh am Morgen, und die Sonne hing wie ein blasser Mond hinter einer rosigen Dunstschicht. Artix ging langsam auf das Gerüst zu, setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, spürte die runden Steine unter den nackten Fußsohlen und fröstelte in der kühlen Morgenbrise. Sie war nur mit einem Hemd bekleidet, so, wie sie sich schlafen gelegt hatte, nachdem sie den Trank der Weisen Frau getrunken hatte …
Aus einer Lücke zwischen den Steinbauten hinter ihr kam ein Mann auf sie zu; er war im Lumpen gehüllt, schmutzig, das fettige Haar hing ihm bis auf die Schultern. Artix roch seinen fauligen Körpergeruch, ranzig und abstoßend. Jetzt sagte er etwas; sie konnte seine gelben Zahnstummel sehen.
Wenn er doch nur in ihrer Sprache reden würde.
Ein lüsternes Grinsen verzerrte seine Züge, ein Ausdruck, wie sie ihn von den alten Männern des Clans kannte, wenn sie zu viel von dem Saft getrunken hatten, der die Sinne verwirrt. Er stand jetzt dicht vor ihr, streckte die schmutzige Hand mit den schwarzen, klauenartigen Nägeln nach ihr aus, packte sie am Arm …
Artix stieß einen Schrei aus. Sie hatte plötzlich das Gefühl, ihr Innerstes werde nach außen gedreht, spürte, wie die winzigen Härchen auf ihrem Unterarm sich aufstellten, sah sie bläulich schimmern. Dann verschwand alles um sie herum, der Platz, die Bauten, das Gerüst und der schmutzige Alte.
Sie stand vor der Hütte ihrer Eltern, zitternd vor Angst und der kalten Nachtluft. Artix atmete tief durch, schloss die Augen und gab sich ganz dem Gefühl der Erleichterung hin, das sie erfasste.
Sie war dort gewesen, wo auch immer das sein mochte, das stand für sie fest, obwohl sie sich das Geschehen nicht erklären
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