Nebra
haben. Warum sonst würde man einen Menschen so leiden lassen? Wer käme schon auf die Idee, dass es sich dabei um Gottes Sohn handelt? Genauso ist es auch bei bronzezeitlichen Abbildungen. Wir können nur raten.« Seufzend blickte sie auf die Fotografie. Die etwa dreißig Zentimeter große Himmelsscheibe bestand aus grün oxidiertem Kupfer, und ihre Vorderseite stellte einen stilisierten Sternenhimmel aus Blattgold dar. Die Ränder waren punktiert und an manchen Stellen ausgefranst. Insgesamt ließen sich zweiunddreißig Sterne zählen, die ungeordnet über die gesamte Fläche verteilt waren. Hinzu kamen ein sichelförmiger Mond und eine großflächige Scheibe, bei der es sich möglicherweise um die Sonne handelte.
Zwei deutlich abgesetzte Begrenzungsstreifen auf der rechten und linken Hälfte der Scheibe legten die Vermutung nahe, dass dieses Instrument seinerzeit zu Himmelsbeobachtungen benutzt wurde. Am richtigen Standort eingesetzt, markierten sie den Sonnenaufgang beziehungsweise -Untergang während der Sonnenwende. Es konnte sich also durchaus um eine Art Kalender handeln, der es ermöglichte, die exakten Jahreszeiten und somit die günstigsten Termine für Aussaat und Ernte festzulegen. Er markierte den Wechsel der Jahreszeiten, der Monate, des Vergangenen und des Künftigen. Ein unermesslicher Schatz für ein Volk, das ohne Uhren und Kalender lebte. Dass es dabei nicht um eine primitive Art von Bauernkalender ging, ließ sich daran ermessen, dass jegliche Form von Kultivierung und Bepflanzung in der frühmenschlichen Mythologie eine tiefe religiöse Bedeutung hatte. Befruchtung, Wachstum, Tod. Der ewige Kreislauf des Lebens. Es war diese Verbindung zwischen Mensch und Kosmos, die in der Himmelsscheibe ihre bildliche Darstellung fand. Und somit stand sie, wie auch derjenige, der sie zu lesen vermochte, in direktem Kontakt mit den Göttern.
»Was ist das?« John deutete auf ein längliches, gebogenes Symbol, das mit den Symbolen für Sonne und Mond ein gleichschenkliges Dreieck bildete. Das Blattgold wurde an dieser Stelle durch parallele Linien strukturiert. »Das ist einer der Gründe, warum ich hier bin.« Hannah strich sich eine Locke aus dem Gesicht. »Dieses Zeichen hat mich überhaupt auf die Ägypter gebracht. Siehst du, wie dieses gekrümmte Ding zwischen der Sonne und dem Mond hin- und herzufahren scheint?«
John nahm ihr die Fotografie aus der Hand und betrachtete sie aufmerksam. »Könnte eine Sonnenbarke sein. Ein Schiff, das vom Morgengrauen bis zum Sonnenuntergang über den Himmel kreuzt«, flüsterte er.
»Genau mein Gedanke«, sagte Hannah. »Sieh mal: Die angedeutete Maserung auf der Seite. Sie unterstreicht den Eindruck von Holz in der Schiffsbeplankung.«
Seine Augen wanderten über jeden Zentimeter der Abbildung. »Hol mich der Teufel«, murmelte er. »Du könntest tatsächlich recht haben. Die Sonnenbarke ist eines der wichtigsten Symbole in der altägyptischen Mythologie. Sollte es wirklich eine Verbindung zwischen den Ägyptern und den Schöpfern der Himmelsscheibe gegeben haben? Aber dazwischen liegen dreitausend Kilometer. Luftlinie, wohlgemerkt.« »Unvorstellbar, ich weiß.« Hannah lächelte. »Trotzdem. Es müssen irgendwelche Handelsbeziehungen bestanden haben. Eine Theorie, über die schon seit Jahren spekuliert wird. Mit dem Symbol der Sonnenbarke hätten wir den ersten wirklich schlagenden Beweis.«
In Johns Augen begann es zu leuchten. »Deshalb der Tempel der Hatschepsut. Jetzt beginne ich zu verstehen.« Er packte Hannahs Hand und zog sie mit sich fort. »Das, wonach du suchst, ist gleich hier drüben«, sagte er. »Komm.«
3
Ein sanfter Wind strich um die steinernen Pfeiler des alten Tempels. Die Sonne zauberte markante Linien in die staubige Luft, die sich wie Finger in die verborgenen Ecken und Winkel des Heiligtums vortasteten und die steinernen Wände wie etwas Lebendiges erscheinen ließen - wie ein uraltes Fabelwesen, das langsam zu erwachen begann. John spürte die Spannung, die in der Luft lag. Eine jahrtausendealte Kultstätte bei Sonnenaufgang zu erkunden, das war ein unvergleichliches Erlebnis.
»Wie gut kennst du dich in altägyptischer Geschichte aus?«, wandte er sich an Hannah, während er sie tiefer in das Heiligtum führte. »Genauer gesagt: Was weißt du über Hatschepsut?«
»Nicht viel«, erwiderte sie. »Nur dass sie in der achtzehnten Dynastie lebte, vor etwas weniger als dreitausendfünfhundert Jahren also, und dass diese Zeit
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