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Nebra

Nebra

Titel: Nebra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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die sich, einer Perlenkette gleich, den Fluss entlang zogen. Der Nil. Längster Fluss der Erde. Ein breites Band aus schlammigem Grün, das sich über sechstausend Kilometer quer durch den Kontinent zog. Sein Geruch war der Preis für den Wohlstand, den er brachte. Auch heute noch garantierte er reiche Erträge und einen nicht abreißenden Strom bildungswütiger Pauschaltouristen. Der Nil war das Leben, die Quelle, die Hauptschlagader inmitten dieses trockenen und unfruchtbaren Landes. Ohne ihn gäbe es hier nichts. Dafür konnte man den Gestank schon fast wieder lieben.
    Hannah überquerte eine kleine Kuppe und sah unvermittelt ihr Ziel vor sich liegen. Ein Hügel, der sich, einer Burganlage gleich, vor die steile Abbruchkante geschoben hatte und das Flussbett von der dahinterliegenden Wüste trennte. Hier endete jegliche Vegetation. Die wenigen Felder oberhalb des Plateaus waren nicht der Rede wert. In Hannahs Augen wirkte ihre Anwesenheit ohnehin unpassend. Sie waren Teil eines Projekts zur Neuerschließung von Land, das jedoch aus Kostengründen nur halbherzig verfolgt wurde. Pumpen kosteten Geld, und wenn man sie abschaltete, war es nur eine Frage der Zeit, bis die Wüste sich ihr Territorium zurückeroberte. Der Felsen, der sich wie eine Nase vorwölbte, beherbergte eine der schönsten ägyptischen Tempelanlagen überhaupt. Eine Anlage, deren Geheimnisse erst in den sechziger Jahren vollständig entschlüsselt wurden. Es war die Zeit, in der das gesamte obere Niltal dem Assuanstaudamm zum Opfer fiel. Weniger eine Zeit der Archäologen denn eine Zeit der Architekten und Ingenieure. Immerhin ging es darum, einige der bedeutendsten Baudenkmäler der Welt zu versetzen. Die Verlegung von Abu Simbel oder Sakkara verschlang Unsummen und erforderte den Sachverstand eines ganzen Heeres von Technikern. Es war nur natürlich, dass sich das Interesse der Weltöffentlichkeit auf diese Mammutprojekte richtete und dabei übersah, dass nebenan weiterhin interessante Neuentdeckungen gemacht wurden. Eine dieser Entdeckungen betraf den Tempel der Hatschepsut in Deir el-Bahari. Die gewaltige Anlage lag im Westteil von Theben, das dem berühmten Tal der Könige vorgelagert ist. Für Hannah war dieser Tempel so interessant, weil er einige Darstellungen enthielt, die ihr bei der Lösung eines aktuellen Problems helfen sollten. Ein Problem, das nur am Rande mit Ägypten oder der Wüste zu tun hatte. Ein Problem, bei dem sie Hilfe brauchte.
    John Evans erwartete sie am obersten Absatz der Tempelanlage. Der Wind zauste seine Haare, während er da stand, die Hände in die Hosentaschen gesteckt, und beobachtete, wie sie die zweimal einhundertzwanzig Stufen zu ihm hinaufstieg. Sein Gesicht lag im Schatten, doch sie konnte erkennen, dass er lächelte. Die Monate in der Wüste hatten ihm gutgetan. Braun und schlank war er. Welch ein Gegensatz zu ihr, die sie das letzte Jahr in Deutschland verbracht hatte. Wehmütig dachte sie an die Zeit zurück, als sie selbst in der Sahara geforscht hatte, auf der Suche nach urzeitlichen Felsmalereien. »Guten Morgen«, sagte er, als sie nur noch wenige Meter entfernt war. Er streckte ihr seine Hand entgegen, die sie nur kurz ergriff und schnell wieder losließ. Wenn er enttäuscht war, ließ er es sich nicht anmerken.
    »Ist das nicht herrlich hier, zu so früher Stunde?«, fragte er, die Hände wieder in den Hosentaschen vergrabend. »Wie du siehst, habe ich eine Sondergenehmigung zum Betreten der Anlage bekommen. Keine Touristen, keine Fremdenführer, kein Gerenne, kein Geschrei - nur wir beide. Nicht schlecht, oder?« In seinen mandelbraunen Augen blitzte es auf. »Fast wie in alten Zeiten.«
    Hannah überging den Kommentar mit einem kurzen Lächeln. Sie hatte nicht vor, sich von ihrem ehemaligen Lebensgefährten aus der Reserve locken zu lassen. John und sie hatten sich vor über einem Jahr während einer Expedition in der Sahara kennengelernt. Damals hieß er noch Chris Carter, doch das war nur ein Deckname gewesen. John gehörte zu jenem Menschenschlag, der nichts dem Zufall überließ, nicht mal seine Identität. Er war ein Allroundtalent. Promovierter Klimatologe, Spezialist für Astroarchäologie und bewandert in sämtlichen Naturwissenschaften. Vor allem aber war er Jäger. Ein moderner Schatzsucher, der sich fortwährend auf der Jagd nach archäologischen Relikten befand. Sein Chef war der Milliardär Norman Stromberg, eine Größe in der internationalen Wirtschaft und ein Mann, dessen Ruf

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