Nemesis 03 - Alptraumzeit
stellen, aber was bei anderen Menschen vielleicht durch blanke Angst möglich wurde, schaffte bei ihr allein schon die Scham: Sie verlieh ihr ungeahnte Kräfte, mit denen sie mich kurzerhand zur Seite stieß, so dass ich um ein Haar das Gleichgewicht verloren hätte und gestürzt wäre. Ich fing mich am Küchenschrank ab und setzte dazu an, ihr nachzueilen, aber Judith ergriff mich am Handgelenk und schüttelte den Kopf.
»Lass sie doch«, sagte sie beschwichtigend. »Die ist nicht unsere Mörderin.« Dann wandte sie sich wieder Ellen zu. »Und wer steckt bitte sehr deiner Meinung nach hinter diesem vermeintlichen Versuchslabor?«
»Irgendein krankes Hirn eben.« Ellen hob hilflos die Schultern und seufzte tief. »Wer macht schon einen Menschenversuch? Und zu welchem Zweck?« Plötzlich weiteten sich ihre Augen. Sie trat an den Küchentisch heran, legte das Tranchiermesser darauf ab und griff nach ihrer Zigarettenschachtel. Die Plastikfolie war verklebt von dunklem, halb eingetrocknetem Blut und ihre Hände zitterten sichtbar, als sie sich eine Zigarette ansteckte. Sie nahm einen tiefen Zug, und schließlich noch einen zweiten und einen dritten, bis sie sich wieder unter Kontrolle hatte. »Die Weibchen sollten gedeckt werden«, sagte sie schließlich mit eisiger Stimme. »Jetzt braucht man die Männchen nicht mehr.«
»Du … du spinnst doch … «, keuchte Judith erschrocken. Sie schien der Hysterie plötzlich fast so nahe wie unsere Ärztin noch ein paar Minuten zuvor.
» Du bist das kranke Hirn! Woher hätten unsere Laborchefs denn wissen sollen, dass sie den richtigen Zeitpunkt getroffen haben. Ich meine, die können doch nicht wissen, wann … «
»Bei mir wäre der richtige Zeitpunkt gewesen. Genau die beste Nacht, um Nachwuchs zu zeugen.« Sie blickte Judith offen an. »Und wie sieht es bei dir aus?«
Obwohl sich alles in ihr dagegen sträuben musste, Ellens wahnwitzige Idee auch nur ansatzweise in Betracht zu ziehen, sah ich Judith förmlich an, wie sie im Geiste die Tage nachzuzählen begann.
»Und?«, setzte Ellen schließlich nach.
»Das geht dich einen Dreck an!«, fauchte Judith, aber ihr Blick wanderte nervös durch den Raum und ihr Atem beschleunigte sich. Zweifellos war es auch für sie der beste Zeitpunkt gewesen, um schwanger zu werden. Mir wurde übel.
»Das ist wirklich albern«, winkte ich ab und schüttelte entschieden den Kopf. »Selbst wenn es so wäre, hätte niemand das wissen –«
»Unsere supergescheite Akademikerin und ihr durchtrainiertes Anabolikadepot!« Judith zog es wohl vor, zum Angriff zu starten, ehe sie selbst noch weiter in die Defensive gedrängt werden konnte, in die sie sich eigentlich ganz ohne Not gebracht hatte. Es blieb allerdings bei einem Versuch.
»Besser als mit einem gescheiterten Tellerwäscher, oder?«, konterte Ellen spöttisch.
»Wer sollte Interesse an so einem Versuch haben?«, wandte ich ein, nur um überhaupt etwas zu sagen, was von den beiden unangenehmen Themen (meinen vergnüglichen Stunden mit Judith und meiner kläglichen Karriere auf amerikanischem Boden) ablenkte.
Ellen bückte sich nach den Fotos, die Maria hatte fallen lassen, und sammelte sie ein. »Hier in der Burg wurden schon einmal irgendwelche Versuche gemacht«, erklärte sie und hielt mir die Schwarzweißaufnahme hin, die Klaus Sänger und einige andere Doktoren in weißen Laborkitteln zeigte. »Sänger hat mit den Nazis gemeinsame Sache gemacht, und weiß der Henker, an was er geforscht hat. Ich bin sicher, dass das Müttererholungsheim oder was immer hier in der Burg untergebracht war, nur zur Tarnung diente. Irgendetwas ist in den Gewölben unter der Burg vor sich gegangen. Etwas, von dem man ablenken musste.« Sie blickte über die Schulter zu Carl zurück. »Woran hätte man sonst so lange bauen sollen.
Und warum hätte man alles so sorgsam verbergen müssen, wenn es nicht etwas Ungeheuerliches gewesen wäre?«
Ed klatschte müde in die Hände. »Gratuliere, Miss Paranoia. Das ist der größte Unsinn, den ich jemals gehört habe.« Er gab Frankensteins Monster aus seiner recht bedauerlichen Theaterkiste zum Besten. »Huahhh
… unheimliche Naziwissenschaftler, die nun vermutlich schon alle über neunzig sind, benutzen uns als Laborratten. Tolle Idee!«
Ich starrte auf den Nazidolch in Stefans Rücken hinab.
Einen winzigen Moment lang war ich beinahe versucht, Ellen zu glauben. Warum eigentlich nicht? Es gab längst keine vernünftige Erklärung mehr für all das, was
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