Nemesis 03 - Alptraumzeit
irrte hektisch durch den Raum, während sie sich vergewisserte, dass niemand von uns zum Versuch ansetzte, gegen ihre mehr als deutliche Ansage aufzubegehren. (Wie sollten wir auch? Zumindest in diesen Sekunden traute sich keiner im Raum auch nur zu atmen.) Alles in allem wirkte sie wie ein in die Enge gedrängtes wildes Tier, das verzweifelt nach einer Lücke im Kessel der Meute sucht, durch die es entkommen kann. Eine Frau wie sie, dachte ich, war in ihrem Leben sicher schon ungemein häufig mit dem Tod in Kontakt geraten, sie hatte wohl schon viele Menschen sterben sehen, ohne dass es sie besonders berührt hätte, ohne dass es sie berühren durfte. Vermutlich hatte sie nicht ein einziges der Unfallopfer, die sie während ihrer Laufbahn in der Notaufnahme vergeblich behandelt hatte, persönlich gekannt. Sie war vermutlich immer ohne größere Schwierigkeiten in der Lage gewesen, das Geschehene mit ihrem weißen Kittel an den Haken zu hängen und einfach hinter sich zurückzulassen, wenn sie die Station verließ. Dieser nicht nüchtern aus den Augen der Ärztin betrachtete, mit Schmerz, Trauer und Hilflosigkeit verbundene Tod eines Menschen, den sie gekannt hatte, überforderte sie. Vielleicht verstand sie in diesen Minuten auch erstmals, was sie im normalen Leben eigentlich jeden Tag tat, worum es dabei wirklich und in letzter Konsequenz ging. Ob sie sich so herzlos und kalt fühlte, wie sie manchmal wirkte?
Augenblicke, die sich schier unendlich in die Länge zogen, vergingen, ehe sie den quer über Judiths Brust gelegten Unterarm mit der zwanzig Zentimeter langen Klinge in der Hand langsam zurückzog und Judith schließlich mit einem herben Ruck von sich wegschleuderte, so dass sie schmerzhaft auf den Knien landete. Mit einem einzigen Schritt war ich bei ihr und half ihr in die Höhe, wobei ich das Haar an ihrem Hals beiseite schob, um zumindest flüchtig die Wunde zu inspizieren, die die scharfe Klinge verursacht hatte.
»Nur ein Kratzer«, stellte ich fest und strich ihr beruhigend über die Wange. Doch sie betrachtete erschrocken ihre Fingerspitzen, mit denen sie nach dem kleinen Schnitt getastet hatte und an denen jetzt Blut klebte.
Dann wandte ich mich wieder Ellen zu. »Wenn es einen Hauptverdächtigen gibt, dann bin ich das«, sagte ich ruhig und spürte, wie ein kleiner Teil meines Verstandes bereits nach einem harten, handlichen Gegenstand zu suchen begann, mit dem er mir gleich den Hinterkopf zertrümmern würde.
Aber obwohl ich das Misstrauen, das in dichten Schwaden durch den Raum zu ziehen schien und sich immer stärker gegen mich richtete, deutlich spürte und spätestens seit Stefans tragischen letzten Augenblicken und der Rolle, die ich in dieser unglücklichen Situation gespielt hatte, sogar nachvollziehen konnte, war es mir recht so.
Lieber sollten Maria, Judith, Ed und Carl ihr – rein objektiv betrachtet – berechtigtes Misstrauen mir gegenüber noch steigern, als dass Ellen sich weiter verdächtigt fühlte und in ihrem schlechten Zustand endgültig die Kontrolle über sich verlor. Ich wusste, dass ich nichts getan hatte. Ich würde den Schuh, den ich mir vielleicht in diesem Moment anzog, mit einer guten Portion Taktgefühl ziemlich rasch wieder ablegen können, ohne ihn einem der anderen direkt zuzuschieben.
»Schließlich war ich der Einzige, der allein unterwegs war«, fügte ich erklärend hinzu. »Außerdem bin ich länger geblieben, als vereinbart war.«
Ich war im Direktorzimmer zusammengebrochen. Der Schmerz in meinem Kopf hatte mir das Bewusstsein geraubt, deshalb hatte ich so viel Zeit dort verbracht. Aber ich erzählte nichts davon – wenn ich meinen Blackout überhaupt erwähnen wollte, dann zu einem späteren Zeitpunkt. Es hätte mir im Moment nichts genutzt.
Wahrscheinlich hätte mir ohnehin niemand geglaubt und ganz nebenbei war es nicht besonders heldenhaft, von nichts als Kopfschmerzen aus den Latschen geworfen zu werden. Ich schämte mich ein wenig dafür. In dieser Situation war es auch nicht wichtig. Mein einziges Ziel bestand gerade darin, Ellen zu beruhigen, bis sie ihre Fassung wiedergewonnen hatte und normale und vernünftige Gespräche führen konnte. Der immer noch misstrauische Ausdruck in ihren hektisch von einem zum anderen und wieder zurück wandernden Augen verriet mir, dass bis dahin wahrscheinlich noch hohe Anforderungen an mein taktisch-emotionales Geschick gestellt würden, das ich in meinem bisherigen Leben noch nicht allzu oft beansprucht
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