Nemesis 03 - Alptraumzeit
in den vergangenen Stunden hier geschehen war, nichts, was diese Anhäufung von unglücklichen Zufällen und Unfällen hätte plausibel erscheinen lassen können. Und Judiths Argument, dass niemand hätte wissen können, wann für die Frauen der beste Zeitpunkt zur Fortpflanzung war, zählte nicht. Nicht umsonst hatten Frauen ganz allgemein die seltsame Angewohnheit, ständig Ärzte aufzusuchen, ohne krank zu sein. Jede der drei verfügte ganz sicher über einen Gynäkologen ihres Vertrauens.
Was, wenn ihr Vertrauen nicht halb so gut aufgehoben gewesen war, wie sie geglaubt hatten? Wenn – Ich verwarf den Gedanken. Nüchtern betrachtet brauchte man als Erklärung für das, was geschehen war, keinen vergreisten Nazi, der nach einem Paarungsexperiment die nun überflüssigen Männchen nach dem Schwarze-Witwe-Prinzip entsorgte. Irgendjemand hatte mit einem Dolch aus dem Dritten Reich, den man mit etwas Glück bei eBay ersteigern oder auf dem Trödel auftreiben konnte, einen von uns niedergestochen – um nichts anderes ging es hier schließlich. Viel naheliegender als Motiv war daher, dass tatsächlich einer von uns die Gelegenheit genutzt hatte, einen Rivalen um das Erbe des Klaus Sänger auszuschalten. Wenn ich mich zwischen einer der beiden Möglichkeiten entscheiden müsste, dann würde ich letztere wählen. Es war traurig und erschreckend, wie weit die menschliche Habgier gehen konnte.
Aber diese Einsicht war noch immer leichter zu ertragen als Ellens Fantasie von den menschlichen Versuchskaninchen und die damit einhergehende Vermutung, nicht einfach nur hier festzusitzen – was an sich schon schlimm genug war –, sondern bewusst und planmäßig eingesperrt worden zu sein und beobachtet zu werden.
Allein diese Idee würde mich in den Wahnsinn treiben, wenn ich sie zu nah an mich heranließ.
»Ich würde mich wohler fühlen, wenn wir ihn aus der Küche schaffen würden.« Judith ging nicht auf Eds dumme Sprüche ein, sondern rümpfte nur verächtlich die Nase, zog es aber auch vor, mit dem Thema abzuschließen, und deutete mit einem Nicken auf Stefans Leiche.
»Das sehe ich auch so«, sagte ich, dankbar für die Ablenkung, weg von meinen eigenen düsteren Gedanken und hin auf das für jeden nachvollziehbare menschliche Bedürfnis, nicht ständig auf einen Toten blicken zu müssen. Schließlich fiel es niemandem leicht, auf so drastische Weise an die eigene Verletzlichkeit, Schwäche und sogar die eigene Sterblichkeit erinnert zu werden.
Ich trat an den Küchentisch heran und bedeutete Carl, mir zu helfen; bis jetzt hatte er an der gegenüberliegenden Wand gelehnt und sich nicht einmal einen Zentimeter von der Stelle gerührt, als Ellen mit dem Tranchiermesser Amok zu laufen drohte. Seine Reaktionen beschränkten sich seit einer geraumen Weile auf das gelegentliche Anheben einer Augenbraue, ein Stirnrunzeln oder das Verlagern seines Gewichtes von einem Fuß auf den anderen. Von uns allen in der Küche hatte er bisher am wenigsten geredet. Etwa weil er am meisten wusste? Wenn ich einen Hauptverdächtigen bestimmen müsste, dann wäre er ganz sicher mein Favorit. Aber meine Verdächtigungen waren ebenso wenig gerechtfertigt wie Judiths unausgesprochenes Misstrauen und das der anderen mir gegenüber. Ich durfte mich nicht auf Vermutungen und Spekulationen einlassen, den Boden der Tatsachen nicht verlassen. Jeder hier war auf seine Weise drauf und dran, den Verstand zu verlieren – ich würde um meinen kämpfen. Bestimmt war dieses undurchdringliche Verhalten von Carl einfach seine Art, auf zu viel Schrecken, Leid und Angst zu reagieren.
Möglicherweise war er froh darüber, so wie ich gerade, durch irgendetwas von den eigenen beängstigenden Gedanken und Theorien abgelenkt zu werden – und sei es dadurch, dass man eine blutverschmierte Leiche aus dem Raum schaffte.
Tatsächlich aber fühlte ich mich nicht besser, als wir den mindestens zweihundert Pfund schweren, schlaffen Körper des Bodybuilders mit vereinten Kräften und Judiths und Ellens wenig effektiver, aber gut gemeinter Unterstützung anhoben, sondern nur auf eine andere Weise hundsmiserabel. Obwohl ich mir große Mühe gab, überall hinzusehen, nur nicht auf den Toten, den wir unter Ellens permanenten Kommandos und fachlich begründeten Zurechtweisungen wie ein schlecht zu greifendes, sperriges, dafür aber empfindliches und mit Respekt zu behandelndes Möbelstück in die Eingangshalle wuchteten, fühlte ich mich eher wie ein Leichenfledderer als
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