Nemesis 03 - Alptraumzeit
ursprünglicher Erwartungen weit mehr mit den Eiweißverbindungen unter seiner Schädeldecke anfangen konnte, als sich nur die aktuelle DFB-Tabelle einzuprägen?
Warum konnte nicht Ed an seiner Stelle schlaff auf dem Küchentisch liegen und aus toten Augen an die Decke starren, während das Blut, das aus seinem Mund getropft war, langsam an seinen Lippen verkrustete? Vielleicht hätte ich in diesem Fall Erfolg mit meinem Versuch gehabt und Ellen hätte mir das Messer gegeben. Aber obwohl die gusseisernen Streben des Fallgitters ihn nahezu durchbohrt hatten, lebte Ed noch, und so funkelte es für einen winzigen Moment nur noch zorniger, noch wahnsinniger in den Augen der Ärztin, während sie erst ihn, dann Stefan anblickte.
Dann begann sie plötzlich zu zittern. Ein Ausdruck von Scham trat in ihre Augen mit den stecknadelkopfgroßen Pupillen. Ein Ausdruck von messerscharfer Intelligenz, vermischt mit grenzenloser Wut und Wahnsinn trat in ihren Blick und eine einzelne Träne rann über ihre Wange, während ihre Glieder erschlafften. Das Messer entglitt ihrer Hand und fiel klirrend auf den Boden hinab.
Schließlich sackte sie in sich zusammen und begann stumm und durch einen Tränenschleier ins Leere starrend zu weinen.
Ich hatte mit vielem gerechnet – zum Beispiel damit, dass sie auf dem Absatz herumwirbeln und Ed ihre chirurgische Treffsicherheit an seinem eigenen Leib beweisen würde, damit, dass sie mir die ausgestreckte Rechte im Stand und ohne Betäubung amputieren würde, oder mit beidem in umgekehrter Reihenfolge. Ich will nicht sagen, dass mir das lieber gewesen wäre als das, was dann tatsächlich geschah – aber weit entfernt davon war ich nun auch wieder nicht. Ich hatte in meinem Leben viele Frauen weinen sehen (habe ich eigentlich schon erwähnt, dass ich nicht unbedingt ein Beziehungsgenie bin?) und diese waren zwar alle keine Amazonen gewesen, aber besonders nah am Wasser gebaut hatten sie nun auch wieder nicht. Doch noch nie zuvor hatte mich ein bisschen Salzwasser auf weicher Haut so berührt, so erschüttert wie in diesem Augenblick: Ellen weinen zu sehen – die starke, unbeirrbare, über allem und jedem stehende Universitätsabsolventin –, dazu noch mit dieser durch und durch ehrlichen Gefühlsregung, hatte etwas Bedrückendes, Verunsicherndes, fast schon Unheimliches. Ich sah, wie sie vergeblich um ihre Fassung rang. Sie wollte nicht, dass wir sie so sahen, dass wir merkten, dass sie verletzlich war, und dass es Ed (ausgerechnet Ed!) gelungen war, sie so sehr zu treffen.
Sie vergrub das Gesicht in den Händen und senkte den Kopf. Noch immer kam kein Laut über ihre zu einem schmalen Strich zusammengepressten Lippen. Ich glaubte nicht, dass es nur der Angriff auf ihre ärztlichen Fähigkeiten gewesen war, der sie so plötzlich und so heftig aus der Bahn geworfen hatte. Mein Blick wanderte zu Stefans totem Körper. Vielleicht waren Judith und ich nicht die Einzigen gewesen, die die hereinbrechende Nacht zu spannenderen Dingen genutzt hatten als zum Spinnwebenzählen und Mottenjagen.
Judith eilte an mir vorbei, ließ sich vor Ellen in die Hocke sinken und streckte den Arm aus, um ihn ihr um die Schulter zu legen. Was dann geschah, passierte so schnell, dass ich die Bewegungen nicht mitverfolgen konnte, obwohl ich kaum mehr als anderthalb Meter von den beiden entfernt stand: In der einen Sekunde berührten Judiths Fingerspitzen sachte Ellens zitternde Schultern, in der nächsten standen beide aufrecht da. Die junge Ärztin hatte Judith an den Haaren gepackt und hielt sie vor sich wie eine Geisel, die ihrem Kidnapper als menschlicher Schutzschild dient. Sie hatte das Tranchiermesser wieder an sich genommen, umklammerte es mit festem Griff und drückte es Judith so grob gegen die Halsschlagader, dass ein Tropfen Blut aus der Schnittstelle quoll und über die blank polierte Klinge rann.
Maria hinter mir schrie entsetzt auf und auch Judith schien schreien zu wollen, aber ihrer Kehle entwich nichts als ein fassungsloses, trockenes Keuchen. Ich wich zurück.
»Keiner fasst mich an.« Ellens Stimme war leise, klang aber dennoch so schrill, dass sie fast hysterisch wirkte.
»Ich kann gezielte Schnitte setzen, glaubt mir. Jeder, der auch nur einen halben Schritt näher kommt, wird nie wieder Gelegenheit bekommen, daran zu zweifeln, verstanden?«
Das Zittern, das von ihr Besitz ergriffen hatte, als sie zu weinen begann, hatte sich zu einem Beben gesteigert und ihr Atem ging schwer. Ihr Blick
Weitere Kostenlose Bücher