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Nemesis 05 - Die Stunde des Wolfs

Nemesis 05 - Die Stunde des Wolfs

Titel: Nemesis 05 - Die Stunde des Wolfs Kostenlos Bücher Online Lesen
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Einmachgläser und erkannte die Ursache des beißenden chemischen Geruchs, der in der staubigen, verbrauchten Luft hing: Einige der Gläser waren gesprungen, lagen teilweise gar in Scherben, und eine durchsichtige Flüssigkeit war aus ihnen ausgetreten – wohl das, was die junge Ärztin, die auf einmal überhaupt nicht mehr müde, sondern ganz im Gegenteil hellwach und sehr aufmerksam und interessiert wirkte, als Formalin identifiziert hatte. Zwischen den Scherben der wenigen, vollständig zerstörten Gläser lagen bis zur Unkenntlichkeit verschrumpelte ... Dinge.
    Präparate, brüllte mein Verstand in einer Deutlichkeit, die sich nun nicht mehr überhören ließ, hinter meiner Stirn. Es machte keinen Sinn, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen, das Tatsächliche zu verdrängen, obwohl ich mit offenen Augen und gleich mit der Nase davor stand. Das hier war eine Anatomiesammlung, ein makaberes Museum menschlicher Organe und Gliedmaßen, die Körperwelten des Professor Klaus Sänger sozusagen, wenn man über genügend tiefschwarzen Humor verfügte, um es damit zu vergleichen.
    Die ersten unbeschädigten Gläser, auf denen Ellen den Strahl der Lampe für einen Moment verharren ließ, waren nur etwa zehn Zentimeter hoch und hatten einen etwa ebenso großen Durchmesser. Senkrechte Glaswände unterteilten sie in jeweils zwei Kammern. In jeder davon befand sich ein Augenpaar in jener scharf riechenden Konservierungsflüssigkeit, mit der alle Behälter gefüllt waren. Die sich im selben Glas befindlichen beiden Augenpaare waren einander nahezu unheimlich ähnlich – nicht allein von ihrer Farbe her; so betrachtet glichen sie einander alle, denn alle Augen waren blau. Sie waren sich nicht nur ähnlich, sondern schienen regelrecht gleich, sie trafen dieselbe Nuance, hatten dieselbe Größe und ... den gleichen Ausdruck?
    Hatten tote Augen einen individuellen Ausdruck?
    Wieder musste ich an die Sachbücher aus Marias Koffer denken. Zwillinge, dachte ich. War nicht ungemein häufig die Rede von Zwillingen gewesen, von Experimenten mit natürlichen Klonen? Und waren diese Augen hier nicht viel zu klein für erwachsene Menschen?
    Ich wollte diesen Gedanken nicht weiter verfolgen. Was ich sah, war schrecklich genug, ohne dass ich mir noch ein paar weitere laienhafte, grauenvolle Interpretationsmöglichkeiten dazu ausspann. Ich stellte fest, dass ich mich spontan getäuscht hatte und doch nicht alle Augenpaare blau waren, sondern dass es auch einige wenige grüne und braune Exemplare gab, von denen die meisten aber entweder hässlich deformiert waren, als hätte man sie verätzt, oder über hell- bis mittelblaue, von unschönen, geplatzten Aderchen durchzogene Augäpfel verfügten. Methylenblau
    ... Ich gab mir wirklich Mühe, es auszublenden, konnte aber nicht verhindern, dass ich immer wieder das, was ich entdeckte, mit dem kürzlich Erfahrenen in Verbindung brachte. Versuche mit Methylenblau. Blondes Haar, blaue Augen, helle Haut, der Vorzeigearier, die Suche nach dem Rezept für den perfekten Menschen ...
    Nun waren es Judiths Fingernägel, die sich unangenehm in meinen Handrücken bohrten. Ich löste meine Hand aus ihrem Griff und legte ihr den Arm um die Schulter, um sie schützend zu mir heranzuziehen, obgleich ich selbst mich sicherlich nicht besser, vielleicht sogar viel elender fühlte als sie, und ich mich selbst nach einer Brust zum Anlehnen sehnte, die mir ein wenig Geborgenheit und Sicherheit vermittelte. Wäre sie nicht längst tot gewesen und ich aus dem entsprechenden Alter fast ebenso lange heraus, so hätte ich mir meine Mutter herbeigesehnt. Aber jetzt blieb mir nichts anderes übrig, als zu versuchen zu geben, was ich selbst nicht bekommen konnte, und wenigstens ein Minimum an Wärme aus Judiths körperlicher Nähe zu schöpfen.
    Ellen ging langsam weiter und beleuchtete eine weitere Reihe gläserner Behälter im linken Ausstellungsregal.
    Judith und ich folgten ihr unaufgefordert. Warum eigentlich? Verdammt, ich wollte weg von hier, ich musste hier raus. Aber meine Beine verfügten in dieser Nacht anscheinend über einen eigenen Willen, der von Zeit zu Zeit ungleich stärker war als der Einfluss meines Gehirns. So, wie sie sich eben noch strikt geweigert hatten, dieses Horrorkabinett zu betreten, sahen sie nun nicht ein, es wieder zu verlassen, ehe sie mich mit allem gefoltert hatten, was hier auf mich warten mochte, fast so, als wollten sie mich dafür bestrafen, dass ich sie gezwungen hatte,

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