Nemesis 05 - Die Stunde des Wolfs
überhaupt hierher zu kommen.
»Siebte Woche, etwa 25 Millimeter«, stellte Ellen mit einem Blick auf einen der Exponatbehälter zu ihrer Linken fest und las ein paar Zahlen vom dazugehörigen Etikett ab, von denen ich bezweifelte, dass sie ihr tatsächlich so viel sagten, wie sie uns mit ihrer Stimme glauben machen wollte. Sie sprach leise, klang aber nahezu abartig sachlich. Sie versteckt sich wieder, stellte ich im Stillen fest.
Sie zog es vor, sich wieder hinter ihrem kugelsicheren, weißen Kittel zu verstecken, weil sie kaum besser verarbeitete, was sie entdeckte, als ich. Trotzdem widerte mich ihr Tonfall an.
»Es ist erstaunlich, dass eine so außerordentliche Sammlung in einem Burgkeller am Ende der Welt untergebracht ist.« Sie trat ein wenig näher an die lange Reihe mittelgroßer Gläser heran, die sie angeleuchtet hatte, und maß sie mit einem Ausdruck wissenschaftlicher Neugier auf dem Gesicht. Ich hasste sie dafür. In diesen Augenblicken hätte ich sie mir durchaus in einem weißen Kittel mit SS-Emblem vorstellen können. Sie hätte eine von ihnen sein können, wäre sie nur ein dreiviertel Jahrhundert früher geboren worden, dachte ich angeekelt. Vielleicht war sie das? Vielleicht bildete überhaupt nicht Carl die größte Gefahr für uns, sondern sie? Oder sie arbeitete tatsächlich mit ihm zusammen, und die beiden spielten ein makaberes Spiel mit Judith und mir? Warum rannte sie eigentlich nicht weg? Der Wirt sah schließlich zumindest im Augenblick davon ab, wild mit seiner Waffe herumzufuchteln, sondern schenkte uns ganz im Gegenteil so gut wie überhaupt keine Aufmerksamkeit und starrte mit vermeintlichem Entsetzen auf ein halbes Dutzend gläserner Behälter, von denen ich nicht wissen wollte, was darin war.
Warum rannte ich nicht weg?
»Sie sollten der wissenschaftlichen Forschung zur Verfügung stehen«, stellte die Ärztin kopfschüttelnd fest und deutete auf das Glas, dessen Inhalt sie als siebte Woche, etwa fünfundzwanzig Millimeter beschrieben hatte. Ich war kein Gynäkologe, musste aber nicht genau hinsehen, um zu wissen, dass es sich um einen Embryo handelte.
»Man kann alles wunderbar erkennen. Der Kopf macht etwas weniger als die Hälfte der Körpermasse aus, es sind sogar schon Ansätze von Ohrmuscheln zu sehen«, dokumentierte Ellen anerkennend, »die Augen sind auch schon da – nur als schwarze Flecken, aber immerhin. Da sind die Arme und die Beine ... sogar winzige, unförmige Fingerchen. So etwas ist immer wieder ungemein beeindruckend.
Ich meine, ein paar Wochen zuvor war das hier nicht mehr als ein Spermium und eine weibliche Eizelle.«
Sie leuchtete weiter und erklärte ausführlich jeden Einzelnen der in Formalin eingelegten Embryonen und Föten.
Fünfzehnte Woche, geschlossene, ausmodellierte Augenlider in viel zu großem Kopf, der auch schon Lippen und eine kleine Nase besitzt ... Ich folgte dem Strahl der Lampe fast mechanisch mit dem Blick und hasste die junge Ärztin für ihre mehr oder minder fachlichen, allesamt jedoch knochentrockenen Erläuterungen. Auf der Stirn sind dunkelrote Adern zu sehen, die Nabelschnur schlingt sich schlangengleich um den kleinen Körper, Finger und Zehen sind deutlich herausgebildet, der Kopf macht etwa ein Drittel der Körpergröße aus ...
Zu gerne hätte ich sie angebrüllt, dass sie doch einfach endlich ihre verdammte Klappe halten sollte. Ich wollte ihr die Lampe aus der Hand schlagen, damit sie aufhörte, diese armen kleinen Wesen, die das Licht der Welt nie hatten erblicken dürfen, dem grellen Schein auszusetzen und mich zu zwingen, selbst zu sehen, was Ellen beschrieb. Aber ich befand mich noch immer wie unter Hypnose, hatte die Gewalt über meine Glieder noch längst nicht zurückerlangt, und meine Zunge fühlte sich noch immer pelzig an und klebte so fest an meinem Gaumen, dass ich befürchtete, bald beide Hände zu benötigen, um sie wieder zu lösen, zumindest aber mehrere Liter Wasser.
So redete die Chirurgin weiter und weiter, beschrieb mehr als ein halbes Dutzend toter Föten und schloss schließlich mit einem zur Geburt bereiten Baby, das man samt Gebärmutter in einem großen gläsernen Zylinder präpariert hatte. Die Gliedmaßen des Babys waren extrem angewinkelt, sodass sie fast verknotet wirkten, da die Gebärmutter nur noch wenig Platz für den wachsenden kleinen Körper bot.
»Sechsunddreißigste Woche«, schloss Ellen. »Etwa fünfundvierzig Zentimeter. Dieses Kind wäre durchaus lebensfähig
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