Neobooks - Das Leben in meinem Sinn
auch.«
Ein Schmunzeln bildet sich auf meinem Gesicht, als ich mich an einen bestimmten Nachmittag mit meiner Familie erinnere, der mir bis heute als ein besonderer im Gedächtnis geblieben ist. Mein Vater verkündete an jenem Morgen am Frühstückstisch, wir sollten uns beeilen, er wolle einen Tagesausflug nach London unternehmen. Ich war damals gerade sechs Jahre alt geworden und besuchte erst seit wenigen Wochen die Schule. Es war ein sonniger Tag. Wir aßen Mittag in einem kleinen Restaurant und bekamen nach unserem Besuch in Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett im Herzen der Stadt ein Eis spendiert.
Ein nahegelegener Werbestand mit vielen bunten Luftballons lockte meine Brüder und mich an. Dort gab es ein spannendes Gewinnspiel, und so füllten wir Postkarten aus, bemalten sie sorgfältig und ließen sie, an Gasluftballons befestigt, in die Lüfte steigen. Ich erinnere mich, dass ich meinem knallroten Luftballon so lange hinterherblickte, bis er hinter den hohen Gebäuden der Stadt verschwand – ahnungslos, auf welch lange Reise ich meine im Wind trudelnde Karte geschickt hatte. Meine Brüder standen längst schon wieder vor dem Eisstand und bettelten meine Mutter um ein weiteres Eis an, als ich noch immer wie festgewachsen verharrte, in den wolkenverhangenen Himmel blickte und mich immer wieder fragte, wo mein roter Ballon wohl landen würde.
Erst, als einige Touristen meinen Daddy erkannten und stehen blieben, gelang es mir, mich loszureißen. Die Passanten starrten ungeniert auf meinen berühmten Vater und fackelten auch nicht lange, ihre Kameras zu zücken und aufblitzen zu lassen. Da Menschen bekanntlich Herdentiere sind, wurden durch das bald schon einsetzende Blitzlichtgewitter immer mehr Schaulustige angelockt. Ich spüre das schrecklich beklemmende Gefühl bis heute, wenn ich daran zurückdenke. Ich fühlte mich wie ein Affe im Käfig und versteckte mich eingeschüchtert hinter den Beinen meines Dads. Der beugte sich zu mir herab, nahm mich bei der Hand und flüsterte: »Komm, Löckchen, ich zeige dir, wie man mit solchen Leuten umgeht.« Er steuerte mit mir direkt auf die Touristen zu, setzte dabei sein freundlichstes Lächeln auf und bat einen Mann aus der Menge um dessen Stadtplan. Sofort ließ das Blitzlichtgewitter nach und neugierige Blicke begleiteten die Bewegungen meines berühmten Vaters. Der zückte in aller Ruhe seinen Kugelschreiber und zog damit große Kreise um den Big Ben, den Hyde Park, den Buckingham Palast und um viele weitere Sehenswürdigkeiten der Stadt.
Dann reichte er die Karte zurück an ihren verdutzten Besitzer und sagte so laut, dass es alle Umstehenden gut hören konnten: »Ich habe mir die Freiheit genommen, Ihnen alle Sehenswürdigkeiten der Stadt zu markieren, werter Herr. Denn was Sie
hier
momentan vor sich sehen, ist lediglich ein Ehemann und Vater, der seinen freien Tag gerne in aller Ruhe mit seiner Familie verbringen würde. Vielen Dank!«
Damit hob er mich auf seine Arme, legte die Hand zum Gruß an seinen Hut und drehte sich auf dem Absatz um. Nicht ein einziges Blitzlicht flackerte mehr auf, niemand bat ihn um ein weiteres Autogramm. Unter dem Gemurmel von Entschuldigungen und guten Wünschen verteilte sich die Menge der Passanten innerhalb weniger Sekunden in alle Himmelsrichtungen und wir konnten aufatmen.
In meinen Augen und mit Sicherheit auch in denen meiner Brüder war diese Rolle unseres Vaters die wohl größte seines Lebens.
Wir wuchsen auf einem alten Landhof auf, den unsere Eltern auch heute noch bewohnen. Weite Grünflächen umsäumen das gemütliche Haus, dessen Innenhof immer an einen Streichelzoo erinnert. Gänse, Hunde und Katzen laufen dort bis heute frei herum, Kaninchen sind in großen Ställen untergebracht und meine heißgeliebten Pferde standen auch damals schon in den angrenzenden Ställen. Als kleines Mädchen von sieben Jahren bekam ich mein erstes Pony und musste es fortan auch selbst pflegen. Mein Dad konnte sehr ärgerlich und streng reagieren, wenn die Tiere nachlässig versorgt wurden. Georgie, mein zweitältester Bruder, musste einmal sogar ohne Abendessen auf sein Zimmer gehen, weil er vergaß, seinen Tieren ihr Futter zu bringen, bevor er selbst zu Tisch erschien.
»Die Tiere gehen immer vor. Sie sind auf uns angewiesen«, hatte mein Dad mit strenger Miene erklärt. Bis jetzt kann ich mich gut an seinen durchdringenden Blick erinnern. Ich habe ihn nie vergessen – ebenso wenig wie die Pflicht, meine Tiere immer
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