Neobooks - Das Leben in meinem Sinn
Jahr: Ich beginne bereits an Thanksgiving, das eine oder andere Geschenk zu kaufen, verpacke sie nächtelang, knüpfe komplizierte Schleifen und falte mit Hilfe eines Origami-Buches aufwendige Sterne zur Verschönerung der Päckchen.
Und wie in jedem Jahr rupft Julie auch an diesem Morgen wieder als Erstes diese Verzierungen ab, bevor sie mit ein, zwei geschickt angesetzten Handbewegungen das restliche Papier zerreißt und sich somit Zugang zu dem heißersehnten Inhalt ihrer Geschenke verschafft.
Und wie immer denke ich an all die Arbeit und die Vorbereitungen zurück, die diesen wenigen Minuten des eigentlichen Geschehens zugrunde liegen – und komme schnell zu dem Schluss, dass sich der Aufwand mal wieder voll und ganz gelohnt hat.
Als Julie die vereinbarte Anzahl ihrer Geschenke ausgepackt hat, pickt sie sich schnell ihren Favoriten heraus: einen Tyrannosaurus Rex, der ganz oben auf ihrer Wunschliste stand.
»Ich hoffe, Matty hat seinen auch gekriegt, dann können wir endlich unseren Vulkan bauen und Urzeit spielen«, sinniert Julie, während sie ihren Dino genau betrachtet und immer wieder an sich drückt.
»Das wirst du schon bald rauskriegen. Wir frühstücken zusammen«, sage ich.
»Wirklich? Jetzt gleich?«, fragt Julie mit großen Augen.
Ich sehe auf die Uhr. Es ist erst kurz nach sieben. Eigentlich eine unmögliche Zeit für einen Feiertag, aber da Fred und Carolin ihren Sohn genauso gut kennen wie ich meine Tochter, haben wir uns tatsächlich schon für halb acht zum Frühstück verabredet.
Ich nicke. »Du hast aber noch Zeit, dich in Ruhe anzuziehen und dir sehr, sehr gründlich die Zähne zu putzen«, sage ich. »Zumindest das, was von ihnen übrig geblieben ist.«
Julie grinst mich an, zeigt stolz ihre breite Zahnlücke und hüpft dann fröhlich die Treppenstufen hoch. »Oh!«, sagt sie mittendrin und beschleunigt ihren Lauf. Kurz darauf kommt sie schon wieder zurück – nach wie vor im Pyjama. Sie trägt ein kleines Päckchen in der Hand, das weder von einer komplizierten Schleife noch von Origami-Sternen geschmückt ist. Dennoch wird es mit den folgenden Worten meiner Tochter zu dem schönsten von allen.
»Das ist von mir, Mommy. Für dich! Ich habe es selbst gemacht!«
Ich packe den beklebten Papierstern behutsam aus, bedanke mich überschwenglich und hänge ihn mitten an eine der großen Scheiben, welche die Front unseres Hauses verglasen und uns somit den uneingeschränkten Blick über den zugefrorenen See ermöglichen.
»Wunderschön!«, sage ich noch einmal. Julie schenkt mir ein weiteres breites Lächeln und läuft dann endgültig die Stufen hinauf, um sich anzuziehen.
Zwischen unserem Haus und dem von Carolin und Fred liegen etwa hundert Meter, die durch einen schmalen Ausläufer des Waldes führen. Es gibt auch einen Weg, der um die Nadelbäume herumführt, aber den nutzen wir nie. Julie und Matt haben hier ihren Geheimweg, der im Grunde nicht mehr als ein schmaler Trampelpfad und schon lange nicht mehr geheim ist, aber sie finden das großartig.
Meine Tochter läuft vorneweg. Wie immer, wenn es in Richtung Matt geht, hat sie es sehr eilig. Ich kann es ihr nicht verdenken, ging es mir mit meinem besten Freund doch genauso, als wir Kinder waren. Dieser beste Freund ist Julies Vater und …
Ein Hundebellen ertönt und reißt mich aus meinen Gedanken.
»Hallo Ben!«, ruft Julie. Ich umfasse die Stofftasche mit den Geschenken, taste nach einem flachen Päckchen und atme tief durch, als ich es zwischen den anderen fühle.
Hoffentlich tue ich das Richtige.
Als ich Ben erspähe, hält er Julie bereits im Arm und drückt sie an sich.
Sein eigenes Kind wäre nur zwei Jahre jünger als sie
, durchfährt es mich bei diesem Anblick.
Ben scheint sich zu freuen, uns wiederzusehen. Wir haben uns gerade begrüßt, als Matty seinen Kopf zur Tür herausstreckt. Er sieht Ben sehr ähnlich. Die gleichen blonden Wuschelhaare, die gleichen Augen – so wasserblau, dass sie zu schwimmen scheinen – und dieser schön gezeichnete Schmollmund. Ich kann mir gut vorstellen, dass Matty später einmal so aussieht wie sein Onkel jetzt.
Ich reiche ihm sein Geschenk, tische ihm die alte Story des verwirrten Santa auf, sehe zu, mit welcher Selbstverständlichkeit er nach Julie greift und, gefolgt von Bens Hund, mit ihr im Haus verschwindet.
Ben und ich bleiben allein auf der Veranda zurück.
Mattys Onkel nimmt erneut in einem der Schaukelstühle Platz, greift schnell wieder nach seiner wärmenden
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