Neobooks - Das Schloss im ewigen Eis
dass die Siegelerbin der Macht am nächsten Tag das Grenzgebiet um Latohor erreichen würde, und ihn angewiesen, ein Treffen mit Darius zu verhindern, weil der die Erben kaum allein ziehenlassen würde. Dalas Meinung nach würde eine Eskorte aber unweigerlich Camoras Aufmerksamkeit auf sich lenken. Zwei Wanderer würden demgegenüber kaum Aufsehen erregen. Gideon hätte lieber den Schutz einer Eskorte genossen, aber offensichtlich traute Dala ihm mehr zu als er sich selbst. Eigentlich hatte er die Erbin auf einer Ebene vor Latohor erwarten wollen. Doch dann hatten sie Schreie aus dem Wald gehört und dort ein Gemetzel gesehen. Pthoh hatte im kühnen Sturzflug zumindest eine junge Frau kurz vor ihren Verfolgern erreicht. Gideon vermutete zunächst, lediglich das Opfer eines Raubüberfalls gerettet zu haben, da er damit gerechnet hatte, dass Königin Ayala sich der Quelle persönlich annehmen würde. Doch bei der ersten Rast hatte er das Amulett mit dem Schlangenkopf, dem Zeichen der Nebelfrauen, bemerkt, und bei näherer Betrachtung war ihm auch die große Ähnlichkeit zwischen der Geretteten und dem Bildnis der Nebelkönigin aufgefallen. Daraus hatte er geschlossen, dass es sich um eine ihrer Töchter handeln musste.
Zwar hatte er sich gewundert, dass Ayala ein so junges Mädchen mit einer derart wichtigen Aufgabe betraute, nahm aber an, dass deren Fähigkeiten von der Königin wohl als ausreichend betrachtet wurden. Pthoh hatte sich sofort bereit erklärt, die im Vergleich zu ihm winzige Frau in einer Decke zu tragen.
Um zu verhindern, dass die Priesterin während des Fluges aufwachte und herumzappelte, hatte er ihr neben Kalla-Beeren regelmäßig ziemlich viel Schlafkraut eingeflößt. Sie schlief nun schon seit Tagen, und es würde wohl noch eine Weile wirken.
Er hüllte sie in seine Decke und gähnte herzhaft. Schließlich war er viele Tage mit nur wenig Schlaf unterwegs gewesen, hatte aber auch eine Strecke zurückgelegt, für die er ohne die Kalla eine halbe Ewigkeit benötigt hätte. Heldenhaft beschloss er, nicht zu schlafen, sondern, wie es sich wohl gehörte, Wache zu halten.
Ihr Lager befand sich unter den letzten Tannen des Waldes, der an die Südebene Kairans grenzte. Er fingerte aus seinem Beutel das letzte Stück Trockenfleisch, wickelte sich bibbernd in seinen Umhang, kaute auf der zähen Masse herum und blickte auf Kairan. Im ersten Licht des Tages waren die Stadtmauer und zwei der ehemals fünf Türme der Tempelanlage zu sehen.
So viel hatte er über die Stadt gelesen und gehört, dass es ihm vorkam, als hätte er länger hier gelebt. Früher hätte er das vielleicht sogar gern getan, denn die Tempelstadt, wie Kairan auch genannt wurde, wurde lange Zeit als Stadt verherrlicht, in der selbst die Ärmsten ein gutes Leben führten. Kairan war Zuflucht für Arme, Kranke und Verfolgte gewesen, denn die Tempelwächter gewährten jedem Hilfe, der darum bat: ohne Fragen und ohne Lohn.
Ihre Lehren, dass vor den Göttern alle gleich seien und jeder die Verantwortung für seinesgleichen trug, war nie auf ungeteilte Gegenliebe gestoßen, denn welcher Fürst oder auch nur reiche Kaufmann wollte schon seinem Knecht gleich sein und für den auch noch Verantwortung übernehmen? Auch ihre Ansicht, es sei frevelhaft, zu schlemmen, wenn man auch nur einen Einzigen kannte, der gleichzeitig hungern musste, hatte bei den wohlhabenden Kairanern kaum Unterstützung gefunden. Ihre Heilerfähigkeiten allerdings waren von allen gern in Anspruch genommen worden, vor allem, weil auch sie jedermann bedingungslos und kostenlos zur Verfügung gestanden hatten. Also hatte man es ihnen gern verziehen, dass sie sich nebenher auch noch der Krüppel, Armen und Rechtlosen angenommen hatten. Armut gab es nicht mehr, und Kairan war ständig gewachsen. Die Tempelwächter selbst hatten stets bescheiden gelebt, aber sie waren unermesslich reich gewesen.
Allein dieser Umstand musste früher oder später natürlich den Vorsitzenden des Priesterrates, Vater Ligurius, auf den Plan rufen. Dessen Behauptung, Lehren und Handeln der Tempelherren widersprächen dem Willen der Götter, da deren größtes Geschenk an die Menschen die Selbstbestimmung sei und es diesem Grundsatz zuwiderlaufe, faulen Nichtsnutzen und Tagedieben zu Wohlstand zu verhelfen, wie er nur den Fleißigen zustände, hatte zu einer beispiellosen Verfolgungs- und Hinrichtungswelle geführt.
Das Gerücht, dass es Vater Ligurius gar nicht um Glaubensfragen ging, da er
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