Neobooks - Transalp 11
wurde.
Es wäre dem Protokoll entsprechend angemessen gewesen, wenn sie sich tief vor ihm verbeugt hätten. Doch er sagte, bevor sie das tun konnten: »Meine Herren, behalten Sie Platz. Tun Sie so, als wüssten Sie nicht, wer ich in Wirklichkeit bin. Wir werden unter Umständen beobachtet.« Dann setzte sich Hagen an den Tisch und musterte die ihn hinter ihren Sonnenbrillen anstarrenden Männer. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, die Brillen abzunehmen? Ich schaue den Leuten gerne in die Augen. Aber einer nach dem anderen. Immer, wenn ich mit Ihnen direkt spreche.«
Die vier nickten nur und der Erste, der Mann aus Buenos Aires, nahm die Brille ab. »Sie müssten die längste Anreise gehabt haben, Manuel. Sie dürfen in ein Hotel. Gehen Sie jetzt sofort ins San Marco Palace Suites und warten Sie darauf, dass die beiden Zielpersonen aus München dort auftauchen. Es handelt sich um einen älteren Mann und eine hübsche blonde Frau. Sie werden sie erkennen. Hier ist ein Foto. Wenn sie kommen, geben Sie mir Bescheid. Tun Sie sonst nichts. Haben Sie mich verstanden?«
»Zu Befehl«, sagte Manuel und ging wortlos über den Markusplatz davon.
»Und ihr kommt mit mir mit«, befahl Hagen den drei anderen. Er blickte ihnen reihum in die Augen. Jeder von ihnen nahm seine Sonnenbrille kurz ab. Dann durften sie ihm hinterhermarschieren.
Ponte dell’Accademia, 20.45 Uhr
Über den Ponte dell’ Accademia auf die andere Seite des Canal Grande gewechselt. Noch traten sich hier die Menschenkarawanen auf die Füße. Zum Glück verschlug es Spindler bald wieder in kleinere Gassen. Er hatte sich neu eingekleidet im Touristenoutfit: kurzärmliges Hemd, Bermudas, Mokassins, Baseballkappe, Sonnenbrille und zur Tarnung eine umgehängte Videokamera. Der Stadtplan passte perfekt dazu, der Foliant unterm Arm weniger. Manche Leute wunderten sich, weil er das Buch ständig auf den Kopf stellte oder einige Seiten gegen das Licht hielt. Über den Campo di S. Agnese zum Canale della Giudecca. Dann vor bis zur Landspitze, vorbei an Santa Maria della Salute mit ihrer berühmten Kuppel und dem Palazzo Dogana. Von hier aus sah man auf der anderen Seite des Kanals den Markusplatz mit dem Dogenpalast und den Campanile. Er hatte alle Richtungspfeile abgearbeitet, alle bis auf einen. Der letzte war ein Pfeil mit der Spitze nach unten. Etwas oberhalb der Spitze war der Pfeil einmal durchgestrichen. Dieses Zeichen hatte Spindler noch nicht verstanden und jetzt wurde es höchste Zeit.
Punta della Dogana alla Salute, 21.15 Uhr
Er stand an der Spitze der Halbinsel, zwischen Canal Grande und dem Giudecca-Kanal, Wasser vor sich, Wasser hinter sich. Es ging nicht weiter. War dies das Ende der Vorstellung? Hatte jemand eine Seite aus dem Buch gerissen? Nein, der Text war vollständig. Aber warum ausgerechnet hier? Als Zwölfjähriger hatte er Sherlock Holmes verschlungen. Er erinnerte sich dunkel an eine Maxime des Meisterdetektivs: Wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschlossen sind, dann ist die verbleibende, so unwahrscheinlich sie auch ist, die richtige. Also doch hier, in dieser Sackgasse? Nun ja, der Canal Grande und der Blick auf den Dogenpalast machten durchaus was her. Doch woher konnte er sich überhaupt sicher sein, dass er immer richtig gegangen war? Hatte er trotz aller Sorgfalt eine Gabelung verpasst, eine Kreuzung falsch interpretiert und war demnach ganz falsch gegangen? Dann konnte auch Sherlock Holmes nichts nützen. Was in aller Welt wollte Hitlers Sekretärin gerade hier?
Sein Kopf war leer. Nach Tagen äußerster Anspannung fiel er nun in ein tiefes Loch. Sein Hirn war leer. Ausgebrannt. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Bleierne Müdigkeit machte sich breit in seinem Kopf, in seinen Beinen. Das angestrengte Nachdenken des ganzen Tages war von ihm gewichen. In diesem Moment meldet sich, leise erst, dann immer stärker sein Bauchgefühl.
Du bist richtig, du hast es. Vertrau dir.
Ein Pfeil nach unten, der wie ein Kreuz aussieht. Ein Kreuz, das nach unten zeigt. Unten, unten ... auf dem Stadtplan, Süden!? Ein Kreuz, das nach Süden zeigt. Elektrisiert starrte Spindler auf den Stadtplan. Viele Kreuze waren da eingezeichnet. Sie standen alle für Kirchen. Bei den meisten Kirchen zeigt das Kreuz nach Osten – üblicherweise liegt der Altar nach Jerusalem hin. Bei ein paar Kirchen stimmte das nicht ganz – im beengten Raum von Venedig ging es eben nicht immer nach Rezeptbuch. Aber unter den unzähligen Kirchen Venedigs zeigte
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