Neongrüne Angst (German Edition)
den Verstand. Er brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass sie noch lebte. Dieses blutbespritzte Brautkleid. Der verrückte Blick aus den weitaufgerissenen Augen kam ihm so unwirklich vor. Doch ihre Lippen sprachen seinen Namen mit solcher Erleichterung aus und so liebevoll, wie er es noch nie im Leben gehört hatte.
»Leon! Leon! Leon!«
Er traute sich nicht, sie in den Arm zu nehmen, weil sie so zerbrechlich wirkte, als könne sie sterben, wenn er nur feste zudrücken würde. Dafür klammerte sie sich um seinen Hals und hauchte in sein Ohr: »Er hat mir Tabletten eingeflößt. Ich … Ruf einen Arzt! Ich hab jede Menge Gift im Körper.«
Leon sah die Badezimmertür, schleifte Johanna ins Bad und schob ihr den Zeigefinger tief in den Mund. Schon würgte sie, dann übergab sie sich. Es kam ihm vor, als hätte er nie ein schöneres Geräusch gehört.
Sie kniete vor der Toilettenschüssel und würgte alles aus sich heraus.
Er rief jetzt über den Notruf einen Krankenwagen.
Während sie gemeinsam darauf warteten, kniete er sich zu ihr, strich ihr die Haare aus dem Gesicht und versprach: »Alles wird gut, Johanna. Alles wird gut.«
Unten im Wohnzimmer spielte Pit seinen letzten Trumpf aus: »Ich werde jetzt einfach gehen und dieses Haus verlassen.«
»Das wirst du nicht«, drohte Tanja, hob das Gewehr höher und richtete den Lauf auf seinen Kopf.
»Um mich daran zu hindern, musst du schon schießen«, sagte er und verzog spöttisch den Mund.
»Das werde ich auch«, sagte sie, und im gleichen Moment dämmerte ihr, dass genau das sein Plan war. Er versuchte, sich der gerechten Strafe zu entziehen, indem er sie provozierte, ihn zu erschießen.
»Na los, komm! Blas mir das Gehirn weg! Es tut mir nicht weh. Ich bin bis zur Halskrause voll mit Tili. Ich will nicht in den Knast. Ich will auch nicht resozialisiert werden. Ich will einfach nur endlich meine Ruhe haben. Komm. Mach Schluss.«
Dann brach er zusammen.
Sie wusste nicht, ob es eine Finte war oder ob seine Verletzungen und die Drogen ihn gefällt hatten. Vorsichtshalber hielt sie Abstand und beobachtete ihn kritisch, während sie das Gewehr immer weiter auf ihn gerichtet hielt.
Er krümmte sich am Boden und weinte jetzt wie ein kleines Kind.
»Ich war doch auch nur auf der Suche nach Liebe«, jammerte er. »Bitte, lass mich wenigstens sterben.«
»Ich glaube, so eine Justizvollzugsanstalt ist nicht gerade ein Liebesnest. Ich kann mir romantischere Plätze vorstellen. Aber ich glaube, dort wirst du für lange Zeit bleiben.«
»Bitte, mach Schluss«, sagte er noch einmal. Aus seinem Mund lief weißer Schaum.
Tanja verlor jedes Zeitgefühl. Schließlich erschien Leon im Wohnzimmer. Er hielt Johanna auf den Armen, als würde er seine Braut über die Schwelle ins Haus tragen.
Johanna wischte sich mit dem Handrücken die Lippen ab. Noch waren ihre Knie zu weich. Sie konnte nicht selbst stehen. Er bettete sie sanft in den großen Ohrensessel.
Sie hustete. »Er hat das gleiche Zeug geschluckt wie ich.«
»Er wollte wirklich mit dir sterben?«, fragte Leon ungläubig.
Johanna nickte.
Dann hörten sie die Alarmsirenen von Polizei und Rettungswagen.
»Bitte schieß«, flehte Pit noch einmal.
Tanja sah Leon an und der Johanna. Die versuchte, beide Hände abwehrend zu heben, was ihr aber nicht gelang. Die Arme fielen schlapp wieder herunter.
»Er braucht einen Arzt. Genau wie ich«, flüsterte sie.
Tanja senkte das Gewehr, und Leon behauptete: »Der braucht zwei Ärzte. Einen für den Körper und einen für seine kranke Seele.«
85
Leon und Tanja saßen schweigend vor ihrem Kakao im Café ten Cate in der Ubbo-Emmius-Klinik, während sich die Ärzte um Johanna und Pit kümmerten.
Leon und Tanja hatten sich nichts zu sagen und waren gleichzeitig so voller Gefühle und Glück und Schmerzen, dass sie sich beide an ihren großen Kakaotassen festhielten und nur ansahen.
Er liebt sie wirklich, dachte Tanja. Wenn sie wüsste, wie sehr ich sie darum beneide. Es gibt nicht mehr viele, die so sind wie er.
Das Schweigen zwischen ihnen empfand Leon inzwischen als peinlich. Am liebsten wäre er bei Johanna geblieben, doch sie hatten ihn rausgeschickt, um ihren Magen komplett auszupumpen. Er war seinem Handy richtig dankbar, als es sich mit Born to be wild meldete. Endlich hatte er etwas, außer Kakao trinken, das er tun konnte.
Lars Schafft war am Apparat und fragte freundlich und durchaus amüsiert nach: »Wollten wir nicht ein Gespräch miteinander
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