Neptuns Tochter (Gesamtausgabe)
müssen.
»Liebes. Ich habe dich etwas gefragt«, erinnerte Adrienn Illay ihre Enkelin.
»Keine Ahnung, warum«, antwortete Timea wahrheitsgemäß. »Vermutlich, weil ich in ihrer Gegenwart alles vergesse. Da gibt es nur noch uns beide. Sonst nichts.«
»Weil du sie liebst«, bekräftigte die Großmutter zum wiederholten Mal. »Gib es doch endlich zu.«
»Ich gebe gar nichts zu«, widersprach Timea sofort. »Kann sein, dass ich ein wenig in sie verliebt bin. Weil sie wie ein Wirbelwind durch mein Leben braust. Aber …« Timea überlegte sich den nächsten Satz genau. »Wirbelwinde neigen dazu, Trümmerfelder zu hinterlassen.«
Adrienn Illay wirkte betroffen. »Das traust du ihr zu?«
»Sie tut das bestimmt nicht mit Absicht«, räumte Timea ein. »Ich hätte halt gern wieder mehr Ruhe in meinem Leben.«
»Wie alt bist du denn?«, meinte die Großmutter schnippisch.
»Lass gut sein, Nagyi«, winkte Timea ab. »Wenn ich mich heute Abend mit Mika treffe«, erklärte sie, »werde ich ihr sagen, dass wir uns besser nicht mehr wiedersehen.« Für einen Atemzug ließ sie den Schmerz zu, der durch sie hindurchfuhr. Dann hatte sie sich wieder im Griff. »Was anderes«, wechselte sie vorsichtshalber das Thema, »Werner Grossmann hat gesagt, dass er mit Großvater zu tun gehabt hat. Hast du das gewusst?«
Das Gesicht von Adrienn Illay war abgewandt. Lange. Viel zu lange. Timea erkannte, dass sie ihre Großmutter enttäuscht hatte. Zum ersten Mal, seit sie denken konnte. »Nagyi«, flüsterte sie.
Adrienn Illay drehte sich nun doch zu ihrer Enkelin. Aus ihrer Haltung sprach die Gräfin Illay. »Ich habe seinen Namen vorher nie gehört«, unterstrich sie. »Wieso ist das wichtig?«
»Ist es nicht mehr«, sagte Timea. Sie hatte heute alles erfahren, was sie wissen wollte. Und darüber hinaus. Mehr könnte sie nicht ertragen.
~*~*~*~
U nruhig wanderte Mika in ihrer Wohnung hin und her. Die Wohnungstür fest im Blick. Sie kam sich vor wie eine Palastwache. Ihre Schritte und ihre Körperhaltung machten sie immer mehr zu einer Soldatin. Die Regentropfen, die ans Fenster klopften, sorgten für die rhythmische Begleitmusik. Wieso war sie bloß so nervös? Mika wusste es nicht. Seit zwei Stunden war sie hier, und genauso lange hatte sie diese unbegreifliche Angst.
»Das liegt bestimmt am Gespräch mit Mama«, redete sich Mika ein. »Wer weiß, was sie Papa sagen wird.« Das konnte einem nur Angst machen.
Zufrieden machte Mika kehrt. Bald müsste Timea hier sein. Um zu reden. Zumindest hatte die Zusammensetzung der Buchstaben auf dem Display diese Worte ergeben. Mika zog ihr Handy aus der Tasche.
»Vielleicht … wenn ich hier einen Buchstaben wegnehme und ihn dorthin schiebe … Die hier komplett lösche …« Mikas Zunge glitt aus dem Mundwinkel und bewegte sich konzentriert hin und her. Das war es. Timeas Nachricht hieß in Wahrheit: Am Ende der Wege sind türmende Torheiten.
Toll. Und was sollte sie mit dieser Botschaft anfangen?
Eine zackige Drehung, und Mika befand sich auf dem Rückweg. Da der Flur sehr klein war, bestand die Gefahr, dass sie sich selbst begegnete. Also hielt sie sich streng an die Vorschriften – immer schön rechts halten – und grübelte über das Ergebnis ihrer SMS-Recherche nach. Mikaela David: die Meisterin des Dechiffrierens. Vielleicht bedeutete die Nachricht einfach nur das, was sie bedeutete.
Würde gern mit dir reden. Wenn es geht, morgen Abend? T.
Und morgen Abend war heute Abend. Also gleich. In vielleicht … die nächste Kehrtwendung war fällig … einer halben Stunde.
Mika beschäftigte ihren Geist weiterhin mit allerlei stumpfsinnigen Tätigkeiten. Zum Beispiel überlegte sie, wie viele Kilometer die Schuhe im Schrank ihrer Mutter bereits zurückgelegt haben könnten. Ob sie schon einmal bis nach Flensburg gewandert waren, um dort das Punktekonto ihrer Trägerin zu begutachten? Das könnte gut möglich sein.
Dem folgten philosophische Abhandlungen, die ebenfalls bar jeglichen Sinnes waren. Alles nur, um sich nicht mit der Frage beschäftigen zu müssen, warum Mikas Magen sich seit sie das Mietshaus betreten hatte mehr und mehr zusammenzog.
Dann war es doch so weit. Mika wollte kein ablenkender Gedanke mehr einfallen. Die Realität hatte sie wieder. Sofort steigerte sich die Herzfrequenz. Sie zitterte. Stand einfach nur da – in Erwartung einer Katastrophe – und hatte nicht die geringste Idee, warum das so war.
Das Läuten an der Tür nahm Mika erst gar
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