Nerd Attack
heranzukommen, genügten uns Kontakte weit hinten in der Verwertungskette.
Nur einmal kam mein Freund Jan der Cracker-Szene deutlich näher, als ihm lieb war. In der Schule, die er besuchte, war ein Junge, der immer an erstaunlich viele und erstaunlich neue Spiele herankam. Sein älterer Bruder war Teil einer Cracker-Crew aus dem Rheinland. Eines Tages füllte jener Bruder für den hocherfreuten Jan einige Disketten mit neuen Spielen. Einige Tage später klingelte im Haus seiner Eltern das Telefon. Der große Bruder war am Apparat: »Du hast ja neulich Spiele von mir gekriegt, ne? Jetzt bist du mal dran.« – »Wie, dran?« – »Na, jetzt crackst du mal was für uns.« – »Das, äh, das kann ich aber gar nicht.« – »Hm, das ist schlecht. Okay, dann gehst du morgen in die Stadt und kaufst für uns ein Spiel. Wir cracken das dann.« Für Jan klang das bedrohlich. Er beichtete seinen Eltern die Geschichte, und die ließen die Sache auf sich beruhen. Die Cracker-Truppe übte keinen weiteren Druck aus, aber Jan ging dem großen Bruder seines Freundes von nun an aus dem Weg.
Im Lauf der Jahre wuchs die regional verteilte Szene zu einer großen zusammen. Die Cracker, Tauscher und Vorspannprogrammierer vernetzten sich. Es gab gedruckte oder auf Disketten verbreitete Amateurmagazine, vor allem aber regelmäßige Treffs und Kopierpartys, auf denen sich die Szenegrößen zum Austausch trafen – und wo manchmal auch die »Lamer« (Langweiler) genannten Möchtegerns geduldet wurden. Oft mussten sie mehr Eintritt bezahlen als diejenigen, die als »Elite« galten.
Sieht man sich Fotos von Szenetreffen aus den Achtzigern an, kann man darauf keine knallharten Techno-Avantgardisten mit Elitestatus erkennen. Die 16-, 17-, 18-jährigen Jungs auf den Bildern, einige von ihnen damals schon internationale Legenden, sehen aus, wie Nerds in den Achtzigern eben aussahen: Sie tragen Karottenjeans, dazu weiße Socken und Slipper oder Turnschuhe, sie haben Fönfrisuren und Flaum auf der Oberlippe, sie lächeln nett in die Kamera. Bei der ersten der heute legendären Partys der Cracker-Gruppe »Radwar« im Jahr 1987, die in einer Diskothek stattfand, traten ein professioneller Michael-Jackson- und ein Amateur-Prince-Imitator auf, außerdem veranstaltete der lokale Jeansladen eine Modenschau. Der heute noch online abrufbare Partybericht vermerkt, der Amateur sei der Bessere der beiden gewesen und zu mehreren Zugaben aufgefordert worden.
Zur gleichen Zeit fanden in London erste Acid-House-Partys statt, in den USA zerlegten Bands wie Sonic Youth und die Pixies den Rock ’n’ Roll in seine Bestandteile und bereiteten den Weg für Grunge. Hip im popkulturellen Sinn waren die Cracker nie – und doch gehörten sie auf ihre Art zur Avantgarde ihrer Generation.
In den USA war die Szene noch stärker in »Lamer« und »Elite« unterteilt, weil die Spiele schon sehr bald nicht mehr von Hand zu Hand gingen, sondern der Tausch über frühe Modems abgewickelt wurde. »Ronski« von der auf Spiele-Importe aus Europa spezialisierten amerikanischen Gruppe »Fucked Beyond Repair« (FBR) erinnerte sich 2006: »Ich hatte nie mit Lamern zu tun oder mit anderen Leuten, die nicht zur Elite gehörten. Weil wir außerhalb der Reichweite normaler C64-Nutzer waren, erzeugte diese Abgrenzung für die meisten Gruppen und Mitglieder mit großen Namen eine Aura des Geheimnisvollen. Sie konnten nur unsere Intros sehen und die Spiele, die wir veröffentlichten, aber in der Regel nicht mit uns in Kontakt treten oder gar mit uns sprechen.«
Die Auswirkungen der gemeinsamen Cracker-Anstrengungen beiderseits des Atlantiks jedenfalls waren gewaltig: »Solange auf ein verkauftes Spiel an die 20 Kopien kommen, ist an eine Aufgabe des Kopierschutzes auf diesem Gebiet kaum zu denken«, heißt es in einem Artikel der Zeitschrift »64’er« aus dem September 1986. Das deutsche Heimcomputerfachblatt »Happy Computer« diagnostizierte 1985 schädliche Auswirkungen der Schwarzkopiererei für die Branche im eigenen Land – obwohl einige der Redakteure selbst der Cracker-Szene entstammten und heimlich weiter mit ihr sympathisierten: »Ein erfolgreiches Spiel sorgt in Großbritannien leicht für sechsstellige Stückzahlen, während man hierzulande mit allem, was über 10 000 Stück liegt, hochzufrieden ist. Der Hauptgrund ist die sehr aktive bundesdeutsche Raubkopiererszene, ohne die es auch bei uns traumhafte Umsatzzahlen geben würde.«
Geknackt und kopiert wurde ebenfalls
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