Nerd Attack
gegen den Autor wenden. Manche Boulevardmedien gehen sogar so weit, Fotos aus Social-Network-Profilen zu kopieren und für ihre Zwecke zu verwenden, wenn sich das gerade anbietet. So wurde zum Beispiel das Bild einer jungen Pilotin, die bei einer Landung einen Beinaheunfall verursachte, in der »Bild«-Zeitung abgedruckt – gefunden hatten es die Redakteure bei StudiVZ. Wer sich im Netz mit anderen austauscht, und sei es in einem geschlossenen Angebot wie StudiVZ, der nimmt damit dieser Logik zufolge solchen offenkundigen Missbrauch in Kauf.
Für Gespräche in der Kneipe gilt diese Betrachtungsweise bislang nicht: Obwohl sie an einem öffentlichen Ort stattfinden, würde man auf wenig Gegenliebe stoßen, wenn man sie aufzeichnen und ihren Inhalt anschließend zum Nachteil der Gäste verwenden würde. Wer sich im Park neben einen Fremden setzte und ihm über die Schulter sähe, während der seiner Freundin Privatfotos zeigt, müsste völlig zu Recht mit sozialen Sanktionen rechnen, obwohl der Akt des Zeigens doch in der Öffentlichkeit geschieht. Menschen, die am Strand oder im Schwimmbad Badekleidung tragen, betrachtet niemand als Exhibitionisten. Argwohn würde dagegen jemand erregen, der am Strand oder im Schwimmbad ein Teleobjektiv in Stellung bringt, um die Badenden zu fotografieren. Es schickt sich einfach nicht, Menschen bei augenscheinlich privaten Aktivitäten intensiv zu beobachten, selbst wenn sie in der Öffentlichkeit stattfinden. Auch für das Internet sollte klar sein: Hier findet an von den Benutzern als geschützte Räume wahrgenommenen öffentlichen oder halb öffentlichen Orten private Kommunikation statt. Nicht alles, was online ist, ist auch »öffentlich« im Sinne von »veröffentlicht«. Manche Anbieter haben diese schlichte Wahrheit technisch umgesetzt – etwa über abstufbare Systeme, mit denen sich Profilseiten je nach Betrachter öffentlicher oder eben diskreter gestalten lassen.
Es ist ein Umdenken sowohl bei den Nutzern als auch den Kritikern digitaler Kommunikation nötig: Einerseits gehört es zu einem kompetenten Umgang mit dem Netz, sich genau zu überlegen, welche Information über sich man an welcher Stelle und in welcher Form preisgibt. Andererseits muss nicht alles, was belauscht werden kann, belauscht werden, nicht alles, was zu sehen ist, muss man sich ansehen. Das ist eine Frage der Etikette. Das gilt auch für den mittlerweile fast sprichwörtlichen Personalchef, der Bewerber erst mal googelt: Verbieten kann man das kaum, aber man kann zumindest die Praxis gesellschaftlich ächten, Job-Anwärter mit Partyfotos zu konfrontieren, die aus irgendeinem Social Network stammen. Wir tolerieren es ja auch nicht, dass Personalchefs Detektive anheuern, um Bewerbern in die Disco zu folgen.
Das Internet verursacht einen globalen Wandel, der vermutlich mindestens so tief greifend sein wird wie die Folgen der Einführung des Buchdrucks oder der Industrialisierung. Wir stehen nach wie vor am Anfang dieser rasanten Entwicklung, deren langfristige Auswirkungen heute niemand ernsthaft vorhersagen kann. Für die Gesellschaft, für die Politik und für viele Wirtschaftszweige hat dieser Wandel bereits jetzt massive, deutlich spürbare Folgen. Gerade die Branchen, die bislang am Verkaufen geistigen Eigentums Geld verdient haben, sehen sich ganz neuen Problemen gegenüber.
Diesem fundamentalen Wandel jedoch mit einer prinzipiellen Abwehrhaltung zu begegnen, mit Rückzugsgefechten und ständigen Verweisen auf die gute alte Zeit, mit mehr oder minder unverholenen Angriffen auf jene, die damit selbstverständlich umgehen, bringt rein gar nichts. Das Internet ist da, es ist global, es ist ein Hort für Information, und zwar auch für solche, die einen vielleicht abstößt. Es gilt, Wege zu finden, mit diesem Wandel in konstruktiver Weise umzugehen. An diesem Punkt ist man in Deutschland noch nicht angekommen. Bislang wird gern lamentiert, mehr oder minder sinnvoll reglementiert und die Infrastruktur vom Gesetzgeber vor allem als Überwachungsinstrument in Stellung gebracht (Vorratsdatenspeicherung, Bundestrojaner).
Wer das Internet für überwiegend schädlich hält, muss ein Menschenfeind sein, denn es ist vor allem eins: der größte Informationsvermittler und -speicher, den die Menschheit jemals zur Verfügung hatte. Vor nicht allzu langer Zeit herrschte in Europa noch Konsens darüber, dass mehr Information, mehr Kommunikation in der Regel besser ist als weniger Information und Kommunikation.
Weitere Kostenlose Bücher