Vaterland
EINS
Dicke Wolken hatten während der ganzen Nacht auf Berlin gedrückt und jetzt schleppten sie sich in das hinein, was als Morgen galt. An den westlichen Stadträndern trieben R e genfahnen wie Rauch über die Oberfläche der H a velseen. Himmel und Wasser verschmolzen zu einer grauen Schicht, die nur von der dunklen Linie es gegenüberliege n den Ufers unterbrochen wurde. Da bewegte sich nichts. Kein Licht war zu sehen. Xaver März, Mordfahnder der Berliner Kriminalpolizei, stieg aus se i nem Volkswagen und hielt sein Gesicht in den Regen. Er liebte diesen besond e ren Regen. Er kannte seinen Geschmack und seinen G e ruch. Es war baltischer Regen, aus dem Norden, kalt und von der See gewürzt, scharf vom Salz. Für einen Auge n blick fühlte er sich wie vor zwanzig Jahren, im Komma n doturm eines U-Bootes, das aus Wilhelmshaven hinaus g litt, mit gelöschten Lichtern, hinein in die Dunkelheit. Er sah auf die Uhr. Es war kurz nach si e ben.
Am Straßenrand vor ihm standen drei andere Wagen. Die Insassen von zweien schliefen in den Fahrersitzen. Der dritte war ein Streifenwagen der Ordnungspolizei - der O r po, wie jeder sie nannte. Er war leer. Durch seine off e nen Fenster kam scharf in der feuchten Luft das Knistern des Funkgeräts, unterbrochen von heruntergerasselten Redefe t zen. Das Drehlicht auf dem Dach leuchtete den Wald n e ben der Straße an: blauschwarz, blauschwarz, bla u schwarz.
März suchte nach den Orpo-Männern und sah sie sich am See unter einem tropfenden Birkenbaum schützen. Im Schlamm zu ihren Füßen schimmerte etwas fahl. Nahebei saß auf einem Baumstamm ein junger Mann in schwarzem Tra i ningsanzug mit den SS-Zeichen auf der Brusttasche. Er war vorwärts gekrümmt, die Ellenbogen auf den Knien, die Hä n de seitwärts gegen den. Kopf gepreßt - ein Bild des Elends.
März nahm einen letzten Zug aus seiner Zigarette und schnipste sie weg. Sie zischte und erstarb auf der nassen Straße.Als er näher kam, hob einer der Polizisten den Arm. »Heil Hitler!«
März beachtete ihn nicht und rutschte das schlammige Ufer hinab, um sich die Leiche anzusehen.
Es war der Körper eines alten Mannes - kalt, fett, haarlos und erschreckend weiß. Aus einiger Entfernung hätte es eine Alabasterstatue sein können, die man in den Schlamm geworfen hatte. Mit Dreck beschmiert lag die Leiche auf dem Rücken, halb aus dem Wasser, die Arme abgespreizt, das Gesicht zurückgeworfen. Ein Auge war fest zuge d rückt, das andere schielte bösartig in den schmutzigen Himmel. »Ihr Name, Unterwachtmeister?« März hatte eine sanfte Stimme. Ohne den Blick von der Leiche zu wenden, redete er den Orpo-Mann an, der ihn gegrüßt hatte. »Ratka, Herr Sturmbannführen«
Sturmbannführer war ein SS-Titel, der dem Weh r machtsrang eines Majors entsprach, und Ratka schien - obwohl hundemüde und naß bis auf die Knochen - eifrig bedacht, Ehrerbietung zu zeigen. März kannte diesen Typ, ohne auch nur hinzusehen: drei Gesuche um Versetzung zur Kripo, alle abgelehnt; eine pflichtbewußte Frau, die dem Führer eine Fußballmannschaft Kinder geschenkt ha t te; ein Monatseinkommen von zoo Reichsmark. Ein Leben, in Hoffnung gelebt. »Gut, Ratka«, sagte März, wieder mit dieser sanften Stimme. »Wann hat man ihn entdeckt?«
»Vor knapp über einer Stunde. Wir hatten gerade Schichtende und patrouillierten in Nikolassee. Wir haben den Anruf entgegengenommen, Dringlichkeitsstufe 1. Fünf Minuten später waren wir hier.« »Wer hat ihn gefunden?« Ratka wies mit dem Daumen über die Schulter.
Der junge Mann im Trainingsanzug stand auf. Er konnte kaum älter als achtzehn sein. Sein Haar war so kurz g e schoren, daß die rosa Kopfhaut durch den Staub hellbra u nen Haares schimmerte. März bemerkte, wie er vermied, auf die Leiche zu blicken. »Ihr Name?«
»SS-Schütze Hermann Jost « Er sprach mit sächsischem Akzent - nervös, unsicher, eifrig zu gefallen. Wort der Sepp-Dietrich - Ausbildungsakademie in Schlachtensee, März kannte sie: eine Monstrosität aus Beton und Asphalt, die in den fünfziger Jahren am Südufer der Havel errichtet worden war. »Ich laufe hier fast jeden Morgen. Es war noch dunkel. Zuerst hab ich gedacht, es sei ein Schwan«, fügte er hinzu, hilflos.
Ratka schnaubte, Verachtung im Gesicht. Ein SS-Kadett, der sich vor einem toten alten Mann fürchtete! Kein Wunder, daß sich der Krieg im Ural ewig weite r schleppte.
»Haben Sie sonst jemanden gesehen, Jost?« März sprach in einem freundlichen Ton, wie ein
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