Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
erzählen.
Der gute alte Navran, bestimmt machte er sich schon große Sorgen um Yonathan.
II.
Der Träumer und ein höllischer Streit
Der Horizont streifte gerade sein rosarotes Morgengewand über, als Jonathan erwachte. Er fühlte sich überhaupt nicht schläfrig, sondern lag mit offenen Augen im Bett, spielte gedankenverloren an seinem Ohrläppchen und vergegenwärtigte sich noch einmal den Traum der vergangenen Nacht. Obwohl hellwach, fühlte er sich erschöpft und ausgelaugt von der anstrengenden Hetzjagd durch die unterirdischen Höhlengänge.
Er wischte diese eigenartige Vorstellung beiseite, um den Kopf für Näherliegendes freizubekommen: Heute würde Mister Garson im Religionsunterricht die Jungen wieder mit seinen Höllengeschichten ängstigen. Es war Jonathan unbegreiflich, wie so viele Menschen an einen solchen Humbug glauben konnten. Konnte ein liebender Gott fähig sein Menschen auf ewig den fürchterlichsten Qualen auszusetzen? Für ihn war diese Lehre nichts weiter als ein Trick der Kirche sich das einfache Volk gefügig zu machen.
Nicht nur einmal hatte er sich tödlich gelangweilt, wenn Pastor Garson ein großartig angekündigtes Unterrichtsthema mit gewohnt-routinierter Eintönigkeit in Bedeutungslosigkeit erstickte. Doch heute hatte sich Jonathan vorgenommen dem feisten Religionslehrer ein wenig behilflich zu sein und die Stunde etwas unterhaltsamer zu machen. Deshalb hatte er sich auch den gestrigen Nachmittag über in der Bibliothek vergraben.
Vielleicht nicht nur deshalb. Als er gestern früh erwacht war, hatte er eine seltsame innere Unruhe gefühlt, die den ganzen Tag über nicht mehr von ihm weichen wollte. Schuld daran waren seine Träume von Yonathan. Noch nie zuvor hatte er ein so intensives Bedürfnis verspürt bei diesem Yonathan zu bleiben, einfach in seinen Träumen zu verweilen und nicht mehr zu erwachen.
Auch andere Jungen erzählten gelegentlich von Träumen, die gerade an der spannendsten Stelle endeten und nach dem Erwachen zu nichts zerfielen. Diese Träume waren eher Stippvisiten, die die Jungen ihrer Traumwelt mal hier, mal dort, ohne bestimmtes Ziel, abstatteten. Einige wurden auch von wiederkehrenden Alpträumen geplagt.
Jonathans Träume waren anders. Seit einer bestimmten Nacht während seiner schweren Erkrankung, als alle dachten, er würde vielleicht nie wieder erwachen, kannte er diesen Yonathan aus seinen Träumen. Damals träumte er in einem kleinen Boot – hilflos und dem Kentern nahe – auf stürmischer See zu treiben. Wie durch ein Wunder legte sich dann aber der Sturm, die Sicht wurde klar und Yonathan erblickte eine Bucht, in der sich ein Hafen befand. Die aufkommende Flut trieb ihn genau dorthin und bald hatte er wieder festen Boden unter den Füßen.
Von diesem Tage an lebte er bei Navran Yaschmon, einem alten Fischer, der für ihn wie ein Vater wurde. Das Leben von Jonathans zweitem Ich war voller Abwechslung. Aufregende und alltägliche Erlebnisse reihten sich aneinander und so wie Jonathan allmählich heranwuchs, so blieb auch der Yonathan seiner Träume nicht der kleine Achtjährige, als der er damals zum ersten Mal in seinem Bewusstsein aufgetaucht war.Äußerlich begannen sich die beiden Jungen immer mehr zu unterscheiden. Der Knabe in Jonathans Traumwelt hatte einen kräftigen Körper, was er dem einfachen Leben und gesunder körperlicher Arbeit verdankte. Jetzt, mit fast vierzehn Jahren, hätte man ihn gut zwei oder drei Jahre älter schätzen können. Jonathan dagegen war klein, zart und kränklich. Seit er vor nun beinahe sechs Jahren die Fähigkeit zu laufen eingebüßt hatte, war sein Zustand noch schlechter geworden. Mit dem großen, starken Jungen aus seinen Träumen schien Jonathan nur noch das dunkelbraune, lockige Haar und die fast schwarzen Augen gemein zu haben. Doch in ihren Anlagen und in ihrer Wesensart waren sich beide sehr ähnlich: Ihr wacher Verstand machte sie zu besonderen Knaben und ein großes Herz zu außergewöhnlichen Menschen.
Wenn Jonathan sich wegen seiner Behinderung mutlos fühlte, wandte er seinen Blick nach innen, zu jenem anderen Yonathan. Dies und das enge Verhältnis zu Gott halfen ihm so manche dunkle Wolke aus seinem Geist zu vertreiben. Oft nahm er dann die Flöte, die er als kleiner Junge von seinem Vater geschenkt bekommen hatte, und spielte ein Lied, das ihn wieder aufmunterte. Manchmal wusste Jonathan nicht, ob die Melodien, die er seinem Instrument entlockte, irdischen Ursprungs
Weitere Kostenlose Bücher