Nesser, Hakan
Hotel, fügte er hinzu.
Sie
saß da, die Unterarme auf dem Tisch, und betrachtete mich mit ernstem Blick. Es
vergingen einige Sekunden, dann senkte sie plötzlich den Blick, ließ die
Schultern fallen, als wäre sie plötzlich unschlüssig geworden.
»Ich
weiß, es klingt unmöglich«, sagte sie langsam und geradezu versöhnlich. »Ich
verstehe es ja auch nicht. Ich bekam einen Schock, als ich Ihr Buch gelesen
habe.«
Vielleicht
doch nicht total verrückt, korrigierten sich meine Gedanken.
»Aber
ist es nicht möglich, dass Sie ein Gedicht zitiert haben, das jemand anderes geschrieben
hat?«, fuhr sie fort.
»Auf
keinen Fall«, versicherte ich ihr.
Natürlich
weiß ich und wusste ich, dass unbewusste (und bewusste) Diebstähle in der
Autorenwelt vorkommen, es ist schlicht nicht möglich, das, was man gelesen hat,
immer von dem zu trennen, von dem man glaubt, es selbst geschaffen zu haben.
Aber
sieben ganze Zeilen? Nein, das hielt ich für vollkommen ausgeschlossen... doch
dazu später mehr, natürlich werde ich darauf noch zurückkommen, doch zunächst
möchte ich der Chronologie folgen.
»Morgenröte«,
sagte sie. »Das ist kein besonders oft benutztes Wort.«
»Ich
weiß«, nickte ich. »Aber es gefällt mir.«
»Mir
auch.«
»Darf
ich einmal sehen?«, bat ich. Sie öffnete ihr Notizheft erneut, drehte es um und
reichte es mir. Ich las. Es stimmte, Wort für Wort, mir war klar, dass sie es
natürlich möglicherweise aus meinem Buch abgeschrieben hatte und nur hinsichtlich
des Zeitpunkts log. Gleichzeitig fühlte ich, dass ich ihre Worte nicht in
Zweifel ziehen wollte. Das würde ja bedeuten, dass ich sie schlicht und einfach
als Lügnerin hinstellte. Ich registrierte, dass die sieben Zeilen mitten auf
einer Seite standen, es gab ganz oben auf derselben Seite einige
durchgestrichene Worte, beim Notizheft handelte es sich um einen üblichen Spiralblock
mit festem, schwarzem Einband, und er schien bis zur Hälfte mit ihren Notizen
gefüllt zu sein. Die betreffenden Zeilen standen auf einer rechten Seite
ungefähr im ersten Drittel des Heftes. Ich schlug es wieder zu und überreichte
es ihr.
»Mai?«,
fragte ich nach. »Sie sagen, Sie haben das im Mai geschrieben?«
Sie
nickte. »In der Nacht zum Fünfzehnten«, sagte sie. »Ich kann mich noch genau
daran erinnern. Es war die Nacht, in der ich beschloss, meinen Mann zu
verlassen.«
Der
Gedanke, sie wäre wahnsinnig, tauchte wieder für einen kurzen Augenblick auf.
Ich jagte ihn davon.
»Schreiben
Sie viele Gedichte?«, fragte ich vorsichtig.
»Ab
und zu«, sagte sie. »Ich versuche es. Manchmal habe ich das Gefühl, Bilder
würden nicht genügen. Es gibt Dinge, die man in Worten ausdrücken muss, ja, das hier ist ja ziemlich selbstredend.«
»Nicht
für alle«, wandte ich ein. »Haben Sie schon etwas veröffentlicht?«
Sie
schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe nicht das Bedürfnis, es jemand anderen
lesen zu lassen. Das Bedürfnis besteht nur darin, es zu formulieren, dieses
Innere, was da nagt und drängt.«
Ich
sagte ihr, dass ich verstünde, wovon sie sprach. Dass Lyrik und Prosa aus
unterschiedlichen Quellen stammen und dass ich für meinen Teil nicht im Traum
daran dächte, eine Lyriksammlung zu veröffentlichen. Das Gedicht in der Perspektive
des Gärtners erfüllte eine andere Funktion als die poetische,
ich behauptete, dass ich mir selbst nicht darüber im Klaren wäre, welche, dass
dies aber bei einzelnen Komponenten in einem Romankonstrukt nicht ungewöhnlich
sei.
Ich
erinnere mich, dass ich an diesem verregneten Novemberabend in dieser Bar in
Aarlach wirklich eine ganze Zeit lang versuchte, ihr diese Tatsache zu
erklären, doch während ich noch dabei war, drängte sich mir ein ganz anderer
Gedanke auf, und ich brach ab.
»Was
ist?«, fragte sie. »Warum reden Sie nicht weiter?«
»Der
Zeitpunkt«, sagte ich.
»Der
Zeitpunkt?«
Ich
trank einen Schluck Wein und dachte nach. »Ja«, sagte ich. »Er stimmt. Ich habe
diese Zeilen auch im Mai geschrieben.«
»Interessant«,
sagte sie. »Ich habe über diesen Aspekt schon nachgedacht. Wollte Sie genau
danach fragen.«
»Das
Buch ist Anfang Juni in Druck gegangen«, erklärte ich. »Aber ich kann mich
daran erinnern, dass ich das Gedicht erst wenige Wochen vor Drucklegung im Kasten
hatte. Ja, Mitte Mai, denke ich.«
»Vielleicht
am fünfzehnten?«, fragte sie.
»Warum
nicht?«, stimmte ich zu.
Eine
Weile saßen wir schweigend da. Ein junges Paar kam und ließ sich am Tisch neben
uns
Weitere Kostenlose Bücher