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Nesser, Hakan

Nesser, Hakan

Titel: Nesser, Hakan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Perspektive des Gaertners
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in ihrer künstlerischen Karriere weiter, aber ich bin derjenige,
der bis jetzt ökonomisch am erfolgreichsten war. Ich weiß selbst nicht, warum
ich die Zeit mit diesen trockenen Fakten zu unseren Lebensverhältnissen
verschwende. Vielleicht liegt dem ein altes, calvinistisches
Rechtfertigungsbedürfnis zugrunde, vielleicht ist es auch nur eine Möglichkeit,
das, worüber ich eigentlich sprechen will, noch ein wenig hinauszuzögern.
    Wir
sind seit sieben Jahren verheiratet. Vor siebzehn Monaten ist unsere
vierjährige Tochter Sarah verschwunden, und das ist auch der Grund, warum wir
uns in New York befinden.
    Das
ist auch der Grund, warum wir einander fremd geworden sind.
    In
etwa ist dies auch der Ausgangspunkt für diesen Bericht, wobei ich selbst diese
Aussage nicht einfach so schlucken würde. Aber irgendwo muss man ja einen Ausgangspunkt setzen. Irgendwo muss man anfangen.
     
    Genug
der Ausflüchte. Ich habe bereits die schwere Tür zur Bibliothek geöffnet, als
ich beschließe, zunächst doch noch einen Spaziergang am Fluss zu machen. Ich
brauche nur fünf Minuten, um zum Hudson River Park zu gelangen. An diesem Morgen
liegt Nebel über dem Wasser; New Jersey zeigt sich hübsch und gepflegt auf der
anderen Flussseite, fast wider Willen. Ich bleibe eine Weile ganz vorne auf
einem der Piers stehen, es ist fast windstill, die Schiffe und Schlepper
verschwimmen ineinander und gleiten wie schwere, unförmige Urzeitwesen durch
den gelbweißen Dunst. Es sieht aus wie in meinem Inneren, denke ich, meine
Gedanken weisen die gleiche klumpige Unscharfe auf, ich weiß nicht genau, wie
es sich bei Winnie verhält, aber ich glaube, dass es bei ihr um andere Fragen
geht. Ich schreibe »glaube«, ich meine aber »weiß«. Wir stehen zwar beide am
Abgrund der Verzweiflung, aber der Abgrund der Verzweiflung streckt sich in die
Länge, und unsere Positionen liegen weit voneinander entfernt. Wir sind nicht
einmal mehr in der Lage, einander die Hand zu reichen, um gemeinsam von einer
Klippe oder einer Brücke zu springen, und das, genau das ist es, was alles so
viel schwerer macht, als es sowieso schon ist. »Erträgst du es noch mit mir?«,
fragte sie mich neulich. Ich antwortete, dass ich mir nichts sehnlicher
wünschte, als wenn wir wieder einen Weg zueinander fänden, aber womöglich ist
das nicht die ganze Wahrheit, beschwören könnte ich es nicht. Man sagt Dinge,
die passend klingen, und wir haben uns seit dem Zeitpunkt, als Sarah
verschwand, nicht ein einziges Mal geliebt; manchmal ist es schwer zu
begreifen, warum wir uns mit so einer Hartnäckigkeit immer noch aneinander klammern.
    Ich
wandere die Chelsea Piers
hinauf, dann zurück durch den Meatpacking
District und das West Village. Kaufe Kaffee und einen Bagel im Delikatessengeschäft an der
Ecke Hudson/ Barrow, und
als ich den Platz an meinem Tisch in der Bibliothek einnehme, ist es Viertel
nach zehn.
    Ich
hole meinen schwarzen Block und meine Stifte heraus. Schaue durch das hohe
Fenster mit den Bleiglasfenstern nach draußen; die Bäume entlang der Leroy
weisen noch keine Spur von Gelb auf, der Sommer reicht wirklich weit in den
September. Hinten von den Sportplätzen im James Walker Park sind Rufe und
Flüche der Spieler zu hören. Ich trinke einen Schluck Kaffee, beiße vom Bagel
ab und starre auf die erste leere Seite.
    Beschließe
dann, den Satz mit den Koffern und den Herzen zu akzeptieren, plötzlich habe
ich das Gefühl, dass er gar nicht mehr so wichtig ist, wie ich gedacht habe.
Alles ist möglich.
     
    Ich
schaue auf, mein Blick begegnet dem von Mr. Edwards.
    Mr.
Edwards ist ein Mann in den Siebzigern. Er sitzt an einem Tisch weiter hinten
im Raum, er ist Stammkunde, genau wie ich, und genau wie ich ist er damit
beschäftigt, etwas zu schreiben. Er ist hochgewachsen, macht einen vitalen Eindruck,
obwohl er eine Glatze hat und sich nur mühsam vorwärtsbewegen kann. Allem
Anschein nach ist es die Hüfte, die ihm Probleme bereitet. Sein Gesicht ist länglich,
mit einer kräftigen Kieferpartie und tief liegenden Augen, seine Hautfarbe
zeugt davon, dass Latino- oder
karibisches Blut in seinen Adern fließt. Vielleicht verdünnt, aber nicht mehr
als fifty-fifty. Wir haben uns einander nie vorgestellt, aber ich habe gehört,
wie das Personal ihn mit »Mr. Edwards« ansprach. Seit ich in die Bibliothek
gehe, also seit zwei Wochen, hat er immer auf seinem Platz gesessen. Wir
begrüßen uns durch ein vorsichtiges Kopfnicken, aber mehr auch nicht.
    Auch
an diesem

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