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Nesser, Hakan

Nesser, Hakan

Titel: Nesser, Hakan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Perspektive des Gaertners
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entscheidenden Augenblick eingefangen, ihn aus dem schonungslosen
Strom der Zeit herausgehoben und bewahrt.
    »Das
stimmt«, fragt sie. »Oder?«
    »Ja«,
bestätige ich. »Das stimmt.«
    »So
stand er da, als er mit ihr gesprochen hat, nicht wahr?«
    »Ja,
so stand er da.«
    »Habe
ich Sarah in der richtigen Haltung eingefangen?«
    »Ja«,
bestätige ich. »Das hast du.«
    Ich
stelle außerdem fest, dass ich der Zuschauer bin - oder genauer gesagt, dass
der Betrachter des Bildes sich genau in der Position befindet, in der ich mich
am 5. Mai 2006 um 15.35 Uhr befand.
    In
unserer Küche. Ich stand an der Kaffeemaschine, bin dann mit meinem frisch
gebrühten Espresso ans Fenster gegangen, um nachzusehen, ob Sarah immer noch
auf der Decke auf dem Rasen sitzt und mit ihren Stofftieren spielt.
    Aber
das tut sie nicht. Sie steht draußen auf dem Bürgersteig und redet mit einem
unbekannten Mann in einem grünen Mantel, der gerade eben sein Auto neben unserem
Briefkasten geparkt hat.
    Winnie
sieht, was ich sehe. »Ja«, bestätigt sie. »Das stimmt. Ich habe versucht,
deinen Blickwinkel zu finden. Jetzt möchte ich nur noch, dass du mir bei seinem
Gesicht hilfst.«
     
    Ich
habe fünfhundertfünfzig Mal versucht, dieses Gesicht zu beschreiben. Jede
Stunde jeden Tages habe ich versucht, die Konturen hervorzuholen. Ich habe
davon geträumt, ich habe bei der Polizei gesessen und Hunderte von Fotos
angesehen; man hat mir Phantombilder gezeigt, manchmal hatte ich das Gefühl, dass
es vor meinem inneren Auge hervortrat, aber es ist nie haften geblieben. Es war
wie eine Fußspur im feuchten Sand, wie ein kurz aufleuchtender Blitz auf meiner
Netzhaut, vollkommen unmöglich festzumachen.
    Lang
und schmal, glaube ich, so habe ich es den erschöpften Polizisten erklärt.
Vermutlich war sein Haar dunkel, vermutlich ziemlich kurz geschnitten. Kein
Bart, keine Brille.
    Alter?
    Schwer
zu sagen. Nicht alt, nicht jung. Zwischen fünfunddreißig und fünfundvierzig
vielleicht.
    Vermutlich,
wahrscheinlich, vielleicht.
    »Das
genügt«, sage ich meiner Frau. »Ich habe genug gesehen, alles ist vollkommen
korrekt. Du kannst es wieder wegstellen.«
    Das
tut sie auch, während dieser Zeit hole ich eine Flasche Rotwein aus dem
Schrank. Ohne zu fragen, schenke ich zwei Gläser voll, und schweigend sitzen
wir einander am Tisch gegenüber, während wir austrinken und all den Geräuschen
der Stadt lauschen.
     
    6
     
    Der
Regen hatte nicht aufgehört, aber er war weniger geworden. Feiner, ein
Schleier aus winzigen Wasserpartikeln, die geradezu spielerisch in der kühlen
Nachtluft wehten, ohne landen zu wollen. Ein paar Grade kälter, und es wären
Schneeflocken gewesen. Sie schob ihre Hand unter meinen Arm und drückte sich
leicht an mich, ich konnte nicht entscheiden, ob das ein Zeichen dafür war,
dass sie fror, oder für etwas anderes.
    Wir
hasteten durch menschenleere, nass glänzende Straßen, und nach kaum zehn
Minuten waren wir über eine Eisenbahnbrücke gelangt, um einen Friedhof
gegangen und hatten unser Ziel erreicht. Eine große Mietskaserne in dunklem
Ziegelstein, Vierziger- oder Fünfzigerjahre, soweit ich es beurteilen konnte;
ich war mir nicht sicher, ob ich problemlos wieder zu meinem Hotel zurückfinden
würde. Aber es gibt ja Taxis, dachte ich. Selbst zu nachtschlafender Zeit,
selbst in einer Stadt wie Aarlach.
    Ihre
Wohnung lag ganz oben. Sie schloss mit drei verschiedenen Schlüsseln auf, das
erschien mir etwas sonderbar. Wenn man drei Schlösser an seiner Tür braucht,
dann hat man entweder etwas äußerst Wertvolles drinnen. Oder man hat Angst vor
etwas.
    Sie
führte mich nicht herum, weshalb ich keinen Eindruck von der Größe der Wohnung
bekam, aber das Wohnzimmer war geräumig mit einem großen Panoramafenster aus
Sprossenscheiben, das auf eine Dachterrasse und dunkle Baumkronen zeigte. Mir
wurde ein großer Ledersessel zugeteilt, sie verschwand in der Küche, und ich
schaute mich um. Ein Bücherregal, zwei Gemälde und eine Palme, das war alles,
abgesehen von der Sofagruppe mitten im Raum und einem gemauerten Kamin. Kein
Fernseher, keine Teppiche auf den dunklen, breiten Holzdielen. Ich weiß noch,
dass ich dachte: Schön. Hat Stil.
    Beide
Bilder waren leicht durch Spots beleuchtet, das eine zeigte einen einsamen
Fischer in einem einfachen Boot draußen auf einem ruhigen See, das andere war
abstrakt mit großen roten Flächen, die in dicken Schichten übereinandergelegt
waren. Beiden fehlte ein Rahmen, beide waren groß;

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