Nesthäkchen 03 - Nesthäkchen im Kinderheim
Aber Frau Braun war zu ängstlich, sie in dem großen Berlin ohne Begleitung gehen zu lassen. Sie kannte ihr Töchterchen, das immer andere Gedanken im Kopf hatte. Nur der steten Gesellschaft der zuverlässigen Margot war es zuzuschreiben, daß sich Mutti endlich damit einverstanden erklärt hatte.
Aber die Mutter atmete doch jedesmal auf, wenn mittags das doppelte Klingelzeichen ihres Nesthäkchens ertönte. Auch heute erstrahlte ihr Gesicht, als Annemaries helle Stimme schon draußen vom Treppenflur durch die Wohnung schallte.
»Mutti zu Haus?« Keins der Braunschen Kinder erschien des Mittags ohne diese Frage. Sie war ihnen wichtiger als das »Guten-Tag-Sagen«. »Hanne, was gibt's denn heute zum Mittagessen - ich muß noch 'ne große Stulle essen, sonst verhungere ich.« Vorbei ging's an der Küche und wie ein Wirbelwind ins Wohnzimmer.
»Tag, Mutti, wir sollen das nächste Mal eine Puppe zur Handarbeitsstunde mitbringen, wir dürfen für sie nähen. Und Fräulein Hering war gar nicht doll böse auf Puck, daß er das Loch in meine Häkelarbeit gebissen hat und…«
»Langsam - langsam, Kind«, unterbrach die Mutter das sich überstürzende Töchterchen. Ihr Blick umfaßte liebevoll ihr blühendes Nesthäkchen mit der schiefen Mütze und den verwehten Locken. »So, meine Lotte« - »Lotte« war von jeher der von den Eltern gebrauchte Kosename für die Kleine - »nun erzähle mal der Reihe nach. Was ist in der Schule vorgefallen? Also zuerst im Rechnen!«
Rechnen - eine höchst fatale Frage! Annemarie begann mit ihren Zöpfchen zu spielen, sie zuckte die Schultern und machte möglichst gleichmütig »Och«. Dann aber behielt die Aufrichtigkeit die Oberhand über die unangenehmen Empfindungen, welche Mutters Frage in Annemarie auslöste.
»Wir haben eine Klassenarbeit geschrieben - drei Fehler habe ich - aber Hilde Rabe hat neun, und Ruth sechs, und Erna Rust hat nicht eine Aufgabe richtig«, zählte sie ein wenig befangen auf.
»Und wer hat null Fehler?«
O weh, das waren eine ganze Menge, die Annemarie da nennen mußte. »Da hast du doch bestimmt deine Gedanken wieder einmal nicht beisammen gehabt, Annemie. Die Aufgaben kannst du, das weiß ich. Nun wirst du dich sicher zu Ostern von deinem ersten Platz trennen müssen.«
»Och, das schadet nichts«, meinte Annemarie. »Klaus sagt, Erste sein ist nicht schön, da kann man nicht mehr rauf kommen, bloß immer runter…«
»Ich würde mir lieber an Hans ein Beispiel nehmen, anstatt an Klaus. Der war doch sein Lebtag noch nie Erster - und was ist sonst noch passiert?«
»Eigentlich gar nichts« - Annemarie zögerte. Nein, passiert war doch wirklich weiter nichts, denn den Tadel hatte sie doch nicht bekommen.
»Das heißt - Fräulein Neudorf hätte mir beinah einen Tadel gegeben - aber nur beinah, Muttichen«, bekräftigte Annemarie schnell, da sie sah, daß Mutters stets so freundliches Gesicht ernst wurde.
»Was soll denn das heißen, Annemarie?«
»Na ja, erst wollte sie, weil sie glaubte, ich hätte Margot gefragt, was bei der einen Aufgabe rauskommt. Und nachher hat sie sich zum Glück besonnen, und ganz nachher war sie überhaupt nicht mehr böse«, sprudelte Annemarie ziemlich unklar heraus.
»Du hast mir heute wenig Freude gemacht, Annemarie«, sagte Mutti. Das Töchterchen sah unbehaglich zu ihr hin.
»Wenn Fräulein Neudorf nicht mehr böse war, brauchst du es doch auch nicht zu sein, Mutti - und - und - das nächste Mal passe ich gewiß wieder besser auf!« Die Mütze rutschte noch schiefer, denn die Kleine hatte den Blondkopf zärtlich an Muttis Wange gepreßt.
Konnte Frau Braun da ihrem Nesthäkchen noch zürnen? Sie gab der Kleinen einen liebevollen Klaps und sagte: »Na lauf, Lotte, und bessere dich!«
Hurra -Mutti hatte wieder »Lotte« gesagt! Selig verschwand Annemarie im Kinderzimmer. Die Mütze flog aufs Bett, der Mantel auf den Tisch, die Mappe in den Puppenwagen und die Handschuhe auf die Erde.
»Tag, Fräulein Lena«, mitten hinein in den großen Berg Ausbesserwäsche, in dem Fräulein Lena wie zwischen weißen Wolken thronte, wirbelte Annemarie.
»Aber Annemarie, du kleiner Liederjan - jeden Tag muß ich dich erst daran erinnern, daß man seine Sachen ordentlich forträumt -«
»Geliebtes Fräulein, bloß keine Strafpredigt mehr, ich habe mein reichliches Teil heute schon weg.« Ehe Fräulein Lena noch des näheren auf den heiklen Punkt eingehen konnte, war das quecksilbrige Ding schon wieder davon. Draußen in der Küche
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