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Schattenspiel

Schattenspiel

Titel: Schattenspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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New York, Silvesternacht 1988/89
    Das neue Jahr war fünf Minuten alt, und über New York rasten die bunten Feuerwerkskörper in den Himmel, als Andreas Bredow einen stechenden Schmerz in der linken Brust spürte und für Sekunden um Atem rang. Am ganzen Körper brach ihm der Schweiß aus. Dann war es vorbei, so plötzlich, wie es gekommen war, aber kaum hatte er tief Luft geholt und sich wieder in seinen Sessel zurückgelehnt, setzte der Schmerz erneut ein, ein krampfartiger, furchtbarer Schmerz, der ihm die Kehle zuschnürte und ihm ein Zittern durch Arme und Beine jagte. Er preßte beide Hände gegen die Brust, krümmte sich zusammen.
    Ein Infarkt. Es konnte nur ein Infarkt sein.
    Seit Jahren verfolgte ihn die Angst, ihm könnte so etwas passieren. Er war infarktgefährdet, das hatte ihm sein Arzt immer wieder gesagt. Herztabletten und Kreislaufmittel vervollständigten alle seine Mahlzeiten. Eine gewisse Zuversicht hatte Andreas aus der Tatsache gezogen, daß immer genügend Menschen um ihn sein würden, die ihm helfen könnten. Chauffeur, Butler, Putzfrau, Sekretärin, Dienstmädchen. Und David, der auch nachts in der Wohnung schlief.
    Tatsächlich war Andreas Bredow in den letzten Jahren kaum eine Minute allein gewesen, denn wohin hätte ein 61jähriger vollkommen blinder Mann allein auch gehen sollen? Irgend jemand hatte ihn stets an der Hand genommen, immer hinter ihm gestanden. Er brauchte nur zu rufen oder zu klingeln, und ein halbes Dutzend dienstbare Geister stürzte herbei. Immer. Bloß in dieser Nacht nicht. In der Silvesternacht der Jahre 1988/89 war Andreas Bredow, einer der reichsten Männer an der amerikanischen Ostküste, in seinem Nobelappartement hoch über der Fifth Avenue vollkommen allein.

    Er mußte sich plötzlich übergeben. Das verschaffte ihm eine kurze Erleichterung, in der er einen klaren Gedanken fassen konnte: Er mußte nur den Telefonhörer abheben und die 1 drücken, dann war er mit dem Portier unten in der Eingangshalle verbunden. Der Portier kannte die Nummer des Arztes, besaß außerdem die Sicherheitsschlüssel zum Penthouse. Er würde Dr. Harper also auch nach oben bringen können, zwanzig Etagen hoch. Ja, der Portier. Er brauchte nur den Portier.
    Das Zimmer, Andreas’ Arbeitszimmer mit Blick über den ganzen Central Park, war so eingerichtet, daß sich alle Möbel entlang den Wänden aufreihten und sich in der Mitte des Raumes nichts befand. Andreas konnte sich daher rasch und ohne zu stolpern bewegen.
    Jetzt schien sich alles um ihn zu drehen. Auf Händen und Füßen kroch er über den Teppich, einen Perser, alt und sehr kostbar. Die Schmerzen waren kaum mehr auszuhalten. Irgendwo mitten im Zimmer brach er zusammen, lag gekrümmt wie ein Embryo, spürte, wie ihm die Tränen in die Augen schossen, griff mit der Hand an den Hals, zerrte die Krawatte herab.
    Ich sterbe. Ich sterbe. Ich sterbe.
    Die Todesangst trieb ihn, weiterzukriechen. Bis zum Schreibtisch ... dort stand das Telefon...wenn er das Telefon erreichte... Krachend und tosend zerbarsten draußen die Silvesterraketen. Es war ihm, als hätten sich die Bilder früherer Neujahrsnächte tief in seine Erinnerungen eingebrannt und als könnte er die roten Blitze, die grünen Sterne, die goldenen Feuer am schwarzen Himmel sehen. Röchelnd, halb besinnungslos vor Schmerz, tastete er nach der Schreibtischkante, zog sich an ihr hoch. Seine Hand griff nach dem Telefonhörer und erstarrte.
    Das Telefon stand nicht an seinem Platz!
    Natürlich glaubte er sofort, er habe sich getäuscht. Er war an der falschen Seite des Schreibtischs angelangt. Schwindel und Atemnot hatten ihn durcheinandergebracht. Er wußte nicht mehr, wo oben und unten, wo rechts und links war.
    Jesus, wenn nur der Schmerz nachließe! Er hätte in sein Herz hineinfassen, es mit beiden Händen umklammern, ihm Platz und
Raum schaffen mögen, damit es wieder frei schlagen konnte. Vor dem Schreibtisch kniend, versuchte er es noch einmal, ließ seine Hand zitternd über die Schreibplatte tasten. Das Diktiergerät... die gerahmte Fotografie seiner Eltern... die Schale mit Bleistiften ... aber dann mußte hier das Telefon stehen! Er schluchzte auf und versuchte, die Einrichtung zu rekonstruieren: Hinter ihm lag die Sitzecke, dann war vor ihm das Fenster, dann war rechts die Lampe, dann war links, verdammt noch mal, das Telefon!
    Nachdem er ein zweites Mal erbrochen hatte, rutschte er zu Boden. Seine Wange kam auf seiner Hand zu liegen, und der schwere goldene Ring,

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