Nesthäkchen 03 - Nesthäkchen im Kinderheim
zu weinen, während die Klasse laut zu lachen begann.
Fräulein Hering gebot Ruhe und fühlte Annemaries Stirn.
»Genau wie Mutti«, dachte Annemarie und schloß beruhigt die Augen. Mutti war bei ihr - sicher - wer konnte denn sonst so zärtlich über ihre Locken streichen? Ach, wenn Mutti bei ihr war, dann war ja alles gut.
»Du hast Fieber, mein Kind«, hörte sie jemand sagen. Doch das war nicht Muttis Stimme, nein, das war ja die von Fräulein Hering. Wie aus weiter Ferne klang sie an Annemarie Ohr. »Du mußt nach Hause gehen, mein Herzchen, aber ich wage nicht, dich allein zu schicken, da dir nicht gut ist. Ich werde dich nach der Stunde selbst heimbringen.« Es war zweifelhaft, ob das fiebernde Kind die freundlichen Worte begriffen hatte. Es hatte den Kopf auf den Schultisch gelegt. Die Mienen der anderen Kinder zeigten Bestürzung und Teilnahme.
Als die Schulglocke schrill durch die Klassen gellte, fuhr Annemarie aus dem Halbschlaf, der sie umfangen, wieder weinend empor. Aber die gütigen Worte ihrer Lieblingslehrerin beruhigten sie. Fräulein Hering setzte Annemarie eigenhändig die Mütze auf die Locken und zog ihr den Mantel an. Vorsorglich schlug sie ihr den Kragen hoch, damit sich das Kind, dessen Backen glühten, nicht noch draußen in der scharfen Märzluft erkälte. Margot schnallte ihr mit mitleidigen Augen die Mappe auf und gab ihr Lolo in den Arm.
Da aber begann Annemarie wieder zu schreien. Das schwarze Gesicht der Puppe flößte ihr Grauen ein. Fräulein Hering nahm die Puppe selbst. Mit dem anderen Arm umschlang sie Annemarie. Aber so liebevoll die Lehrerin sie auch stützte, die Kleine vermochte kaum zu gehen. Die Beine waren ihr so schwer, als ob tausend Gewichte daran hingen. Nur mit Mühe kamen sie die breiten Steintreppen hinab.
Der Hausmeister mußte ein Taxi rufen. Unter neidischen Kinderblicken nahm Annemarie mit der allgemein beliebten Lehrerin darin Platz. Ach - Annemarie war nicht beneidenswert. In ihren Schläfen hämmerte und pochte es, der Kopf, den sie an Fräulein Herings Schulter lehnte, zersprang ihr fast vor Schmerzen. Das Töffen und Rattern des Taxis, das ihr immer solchen Spaß gemacht hatte, verursachte ihr geradezu eine körperliche Pein. Und die Fahrt, sonst für Annemarie der Gipfelpunkt aller Wünsche, ließ sie ganz gleichgültig. In wenigen Minuten hielt das Auto vor dem hohen Haus, in dem Doktor Braun wohnte. Der Gärtner stand im Vorgärtchen und beschnitt die Sträucher. Als er sah, daß die Dame sich vergeblich mühte, die Kleine aus dem Wagen zu heben, sprang er herzu und trug Annemarie auf seinen Armen die Treppe hinauf.
O weh - was bekam Frau Braun für einen Schreck, als ihr Nesthäkchen so nach Hause gebracht wurde. Nachdem sich Fräulein Hering mit den besten Wünschen für die kleine Patientin, die Fräulein Lena inzwischen zu Bett gebracht hatte, empfohlen hatte, legte die Mutter als tüchtige Arztfrau sofort das Thermometer ein.
Das schnellte fast bis vierzig Grad empor.
Um Himmels willen - was war mit dem Kinde? Die geängstigte Mutter eilte ans Telefon, ihren Mann aus seiner Klinik herbeizurufen. Bald stand Doktor Braun an dem Bett seines Kindes und untersuchte es eingehend. Zuerst erkannte es den Vater gar nicht, sondern hielt ihn für den Hausmeister. Aber als der Vater ihr seine kühle Hand auf die brennende Stirn legte und zärtlich sagte: »Meine dumme, kleine Lotte, das war nicht nötig gewesen!« da schlug Annemarie die Augen auf und sah den Vater mit unklarem Blick an.
»Mir tut mein Hals so doll weh!« wimmerte sie. Dann verschwammen Vaters blonder Bart mit dem Kornblumenmuster der Tapete - Annemarie tauchte wieder unter in die Welt der Fieberträume.
Sie hörte nicht die ernsten Worte, die der Vater zu der vor Aufregung blassen Mutter sprach: »Unsere Lotte ist sehr krank - sie hat Scharlach. Der Körper zeigt bereits die kennzeichnenden Flecke. Es ist unmöglich, daß wir das Kind im Hause behalten. Erstens der beiden Jungen wegen und zweitens wegen der Ansteckungsgefahr für meine in die Sprechstunde kommenden Patienten. Ich muß das Kind, so schwer es mir wird, aus dem Hause geben und in meine Klinik bringen lassen.«
Da aber begann Frau Braun zu jammern -»Was, mein Nesthäkchen, meine Lotte soll ich fortgeben, wenn sie so krank ist - nein, Ernst, das bringe ich nicht übers Herz! Ich trenne mich nicht von meinem Kinde, dann siedle ich mit ihr in die Klinik über.«
»Daran habe ich auch gedacht, Elsbeth. Aber du bist dann
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