Nesthäkchen 04 - Nesthäkchen und der Weltkrieg
geräumige Turnhalle war knüppeldick vollgestopft mit großen und kleinen Mädchen, blonden und schwarzen. Die sonst streng voneinander gesonderten Klassen waren willkürlich durcheinander gestreut. Wie der Krieg draußen im großen die sonst voneinander geschiedenen Klassen, reich und arm, Gebildete und Ungebildete, durcheinander wirbelte, so tat er es hier auch im kleinen. Aus den langen Schwebebäumen hatten es sich kecke Dingelchen aus der zehnten Klasse bequem gemacht, trotzdem die erste Klasse meinte, diese Plätze kämen ihr zu. Annemarie Braun aber hatte sogar hoch oben auf einem Barren Platz genommen. Von hier aus übersah sie die Versammlung besonders gut. Margot, die sie in ihrer Tugendhaftigkeit durchaus wieder herunterziehen wollte, hatte damit kein Glück. Übermütig baumelte Doktors Nesthäkchen aus ihrem Barren mit den in geringelten Wadenstrümpfen steckenden Beinen.
Ein Teil der Lehrer und Lehrerinnen betraten die Halle. Dicht neben Annemarie tauchte Fräulein Herings liebes Gesicht auf.
»Na, wieder da, Annemarie Braun? Das ist ja schön, daß du wieder zu uns zurückkommst. Wie ein kleines Fischermädel so braun bist du gebrannt!« Fräulein Hering trat näher und reichte der so lange Fortgewesenen freundlich die Hand.
Auch Annemarie streckte ihre Rechte aus - o weh - da verlor sie das Gleichgewicht auf ihrer schmalen Stange. In dem Bemühen, nicht herabzupurzeln, griff sie auch mit der Linken hilfesuchend nach dem, was ihr gerade das Nächste war. Mit beiden Armen fiel sie, ohne es zu wollen, der Lehrerin um den Hals. Die lachte herzlich über die zärtliche Begrüßung, und die Mädel ringsum wieherten förmlich vor Vergnügen.
Das war Doktors Nesthäkchen trotz aller Freimütigkeit denn doch etwas peinlich. Aber zum Glück betrat gerade der Direktor die rasch aus Sprungkästen und Matratzen erbaute Kanzel.
Er räusperte sich, aber er sprach noch nicht. Erst stimmte der Gesanglehrer Herr Lustig, zum größten Erstaunen der Kinder in feldgrauer Uniform, mit seiner schönen Baßstimme »Es braust ein Ruf wie Donnerhall« an, und hell fielen die Schülerinnen alle ein. Feierlich zogen die Klänge durch die Turnhalle.
Dann sprach der Herr Direktor, schlicht und warm.
»Meine lieben Schülerinnen! Als wir uns vor etwa sechs Wochen trennten, um nach fleißiger Arbeit neue Kräfte in der Erholung zu sammeln, da ahnten wir nicht, welcher gewaltige Sturm über unser teures Vaterland daherbrausen würde. Die deutsche Eiche ist stark in ihren Wurzeln, ob auch viele feindliche Hände sie zu erschüttern suchen, sie wankt nicht. Nur umso fester steht sie da, nur umso herrlicher wird sie grünen. Jede von euch hat wohl ein liebes Familienmitglied mit hinausziehen lassen in den heiligen Kampf um Deutschlands Freiheit, und ist stolz darauf. Aus unserem Kreise haben sich ebenfalls verschiedene Lehrer gelöst, die ins Feld gezogen, mehrere Lehrerinnen haben sich zu Helferinnen des Roten Kreuzes gemeldet. Aber auch von der Schule selbst verlangt der Krieg seine Opfer. Unsere Räume sind dazu ausersehen worden, den Verwundeten eine Genesungsstätte zu werden. Trotz eifrigen Bemühens ist es mir nur gelungen, vier Arbeiter zum Transport der schweren Möbel zu erlangen, auch einige junge Leute vom Pfadfinderbund haben sich uns zur Verfügung gestellt. Der Hauptanteil der Arbeit aber bleibt Lehrern und Schülerinnen. Ich bin davon überzeugt, wie gern eine jede von euch mithelfen wird für die, welche ihr Blut für uns vergießen. Die Schülerinnen von der zehnten bis zur sechsten Klasse gehen nach Haus. Diejenigen der Schülerinnen der Mittel- und Oberstufen, die uns helfen wollen, begeben sich in ihre Klassenräume und empfangen dort die Anleitungen der Lehrer und Lehrerinnen. Die andern können ebenfalls heimgehen, denn es soll eine freiwillige Hilfe sein, die ihr leistet. Wann wir unsern Schulunterricht wieder aufnehmen können, wird noch bekanntgegeben. Das hängt davon ab, ob wir in einer andern Schule unseres Stadtteils ein Unterkommen finden. Voraussichtlich wird der Unterricht nachmittags stattfinden müssen. Lehrer sowohl wie Schülerinnen werden fürs Vaterland auch diese kleine Unbequemlickeit gern in den Kauf nehmen. Aber die verlängerte Ferienzeit darf nicht müßig hingebracht werden, mehr als je hat jetzt jeder die Pflicht, all seine Kräfte zu regen. Ich fordere deshalb die Schülerinnen zur Bildung einer Arbeitsanleitung für das Rote Kreuz auf. Jede Klasse hat drei Vertrauensschülerinnen
Weitere Kostenlose Bücher