Nesthäkchen 04 - Nesthäkchen und der Weltkrieg
Himmel aber wußte es. Die lachte sich ins Fäustchen und sandte ihre Strahlen jetzt durch das Fenster des prustend in Berlin einfahrenden D-Zuges, an dem eine schlanke, blonde Frau feuchten Auges die Türme ihrer Heimatstadt nach langer Zeit wieder grüßte.
Annemarie schrieb und schrieb. So ausgelassen die Sonnenlichter auch über das Papier huschten. Ja, ahnte denn das dumme Nesthäkchen noch immer nichts?
Durch die stille Straße ratterte ein Auto. Es hielt vor dem Braunschen Hause. Jetzt endlich hob Annemarie den Blondkopf und spähte neugierig über Tausendschönchen und Stiefmütterchen hinweg.
Da ging es wie ein elektrischer Ruck durch die Kindergestalt - - -
»Mutti – meine einzige Mutti! - - -« ein Jubelschrei gellte durch die stille Straße, wie dieselbe ihn noch nie vernommen.
Waren es nur wenige Sekunden – eine Ewigkeit dünkte es Nesthäkchen noch, bis es die Treppen hinuntergesaust war, bis es endlich, endlich wieder am Mutterherzen lag.
»Meine Lotte – mein Nesthäkchen – mein liebes Kleines – solange hab' ich dich entbehren müssen!«, fest, ganz fest hielten sich Mutter und Kind umschlungen.
Was fragten die zweit nach fast zweijähriger Trennung danach, daß hier und da neugierige Gesichter an den Fenstern auftauchten, daß die Autoführerin noch immer auf ihre Bezahlung warten mußte?
Erst als polternde Jungenfüße, von einem Freudengewinsel Pucks begleitet, auf die Straße hinausgestürmt kamen, ließ Mutti ihr Nesthäkchen aus dem Arm, um den braunen Krauskopf ihres Jungen zu herzen und zu küssen.
Da mußte sich die Autoführerin noch ein Weilchen gedulden. Aber sie tat es gern, stieg es ihr doch selbst heiß in die Augen bei diesem Wiedersehensglück.
In jedem Arm eins ihrer Kinder, so betrat Frau Doktor Braun wieder ihr Haus. Auf dem untersten Treppenabsatz stand die Großmama. Sie konnte es nicht erwarten, bis die Tochter oben war.
»Mutterchen, dir danke ich es, daß ich fern von der Heimat ruhig sein konnte um meine Kinder«, innig schmiegte sich der blonde Kopf an den weißhaarigen der alten Dame. Nesthäkchen aber durchzuckte plötzlich inmitten des Glücksüberschwalls ein scharfes Weh. Durch Muttis Blondhaar zogen sich Silberfäden – wie wollte Nesthäkchen durch seine Liebe Mutti dieselbe vergessen machen!
Auf dem nächsten Absatz hatte Fräulein mit frohen Augen Posten gefaßt, ganz oben aber thronte Hanne, die lachte über das ganze breite Gesicht.
»Na, Jott sei Dank, daß jnädige Frau wieder bei uns is, nu wird's ja woll auch mit dem entsetzlichen Krieg 'n Ende haben«, sagte sie überglücklich.
»Ja, Hanne, was ich dazu tun kann, das soll sicher geschehen«, scherzte Frau Doktor, und die Wehmut, die ihr beim Eintritt in ihr Heim nach so langer Zeit kommen wollte, schlich sich schnell beiseite.
Draußen wehten siegesfrohe Fahnen, drinnen in dem gemütlichen Wohnzimmer saßen überselige Menschen glücklich vereint wieder beisammen. Die liebe Sonne aber glänzte mit Annemaries Augen um die Wette.
Und Mutti erzählte.
Dazwischen aber wanderte ihr Blick immer wieder zu ihrem blühenden Nesthäkchen, jetzt ‚ihrer Großen‘, die nicht mehr kleiner mehr als sie selbst. Wie dankte sie dem da droben, daß sie endlich wieder daheim sein durfte, daß er Heimat und Haus gnädig beschirmt hatte.
Als die Pfingstglocken durch das Land sangen, da war auch der Vater auf Urlaub heimgekehrt. Still lauschten sie innig vereint dem ehernen Klange, und jeder von ihnen empfand das, was die Mutter aussprach: »Mögen es bald die Friedensglocken sein, die Deutschland durchjubeln – das walte Gott!«
*
Mit diesem Wunsche nehme ich Abschied von euch, meine lieben jungen Leserinnen. Auch mancher von euch hat der Weltkrieg wohl, gleich unserm Nesthäkchen, Opfer auferlegt, kleinere oder größere. Aber ich bin davon durchdrungen, daß auch ihr sie freudig fürs Vaterland auf euch genommen habt. Wenn das schwere Ringen zu Ende und ein siegreicher Frieden unserer teuren Heimat beschieden ist, dann erzähle ich euch, was aus Doktors Nesthäkchen wurde. Bis dahin lebt wohl!
ENDE
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