Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar
Einwilligung nimmer zu dem Unfug geben sollen«, knurrte der alte Herr.
»Unfug - wenn man seinen notleidenden Mitmenschen helfen will«, verteidigte sich das junge Mädchen eifrig. »Du hast den Unfug doch fünfzig Jahre mitgemacht, Großpapa, als Arzt - und noch dazu einer, der seinen Beruf so auffaßt wie du.«
»Hm - na ja - gegen die praktische Arbeit habe ich auch nix einzuwenden.«
Marietta hatte den Großpapa schon wieder besänftigt.
»Ja, hast du denn nicht fürs Examen studieren müssen? Denke nur, was wir alles wissen sollen: Hygiene und Psychologie, Sozialethik und Sozialpädagogik, Volkswirtschaftslehre und ...«
»Hör auf, hör auf, Seelchen, mir wird ganz schwindlig dabei.« Die Großmama blickte von der Strickarbeit - einer Weste, mit der sie den Großpapa zum Geburtstag zu überraschen gedachte - ganz erschreckt hoch.
»Du hast recht, Großmuttchen, mir ist auch etwas schwül zumute geworden. Für Gerda ist das natürlich nur alles Kinderspiel.«
Aha - die Großmama machte sich einen Knoten in ihr Gedächtnis. Da mußte sie einhaken. Da lag sicher der Grund zu Mariettas Verstimmung heute mittag.
»Und wenn du all das Zeug in deinen Kopf 'neingetrichtert hast, was kannst du dann werden, Mädle? Städtischer Nachtwächter oder gar Frau Wirtin im Asyl für Obdachlose?« zog sie der alte Herr gutgelaunt auf.
»Unsere Jetta bleibt bei ihrer kleinen Garde, die wird ihren Hort- und Krippenkindern nicht untreu«, kam Großmama ihrem Liebling zu Hilfe.
»Das ist noch gar nicht so sicher, Großmuttchen. Ich kann ebensogut die Arbeiterwohlfahrt zum Spezialgebiet wählen. Nur muß ich mich entscheiden, ob Jugendfürsorge oder ...«
Marietta brach j äh ab und wurde rot bis an die Wurzeln des goldbraunen Haares. Da hatte sie sich aufs Glatteis begeben und mehr gesagt, als sie eigentlich beabsichtigte. Großmamas leuchtende Augen sahen über die Brille hinweg hinüber. Was hatte das Kind nur? Warum wurde es so verlegen?
Der Großpapa aber, dem nichts aufgefallen war, drängte nun, endlich den Nachmittagsspaziergang zu machen. Sonst würde es stockdunkel. Dabei war er soeben erst mit seiner Zigarre fertig geworden, dem regelmäßigen Signal zum Aufbruch. »Die Nachmittagssprechstunde war wieder mal nit zu bewältigen«, stellte er, sich selbst ironisierend, fest und griff nach dem breitkrempigen, weichen Filzhut. Die Großmama hatte sich in Mariettas Arm eingehängt. Allzuoft hatte sie jetzt nicht die Freude, mit der Enkeltochter wochentags Spazierengehen zu können. Marietta hatte ihre Arbeit im Kinderhort höchst ernst und gewissenhaft genommen. War diese doch Vorbedingung für ihre Aufnahme in der sozialen Frauenschule. Nur selten hatte sie einen Nachmittag frei. Aus den Nachbarvillen folgten den dreien wohlwollende Blicke. Aha - Geheimrats machten ihren Spaziergang. Die alten Leutchen, die als junges Paar einst ihr Nest hier draußen gebaut hatten, gehörten zu dem Straßenbild, wie die Linden und Blutbuchen, welche den Fußsteig säumten, wie der Kirchturm, den man am Ende der Straße sah. Ein jedes Kind kannte sie. Fast in jedem der Häuser war der beliebte Arzt ein treuer Helfer gewesen. Und seine anmutige Frau hatte sich, ob man sie nun persönlich kannte oder nur vom Sehen, von Anfang an die Herzen der Nachbarn erobert. Man hatte die Kinder heranwachsen und davonfliegen sehen, man hatte die Enkelschar in Geheimrats Rosengarten toben gehört. Die Ankunft der exotischen Enkelinnen hatte viel Staub aufgewirbelt. An allem, was Hartensteins betraf, nahm die Straße regen Anteil. Hier zog man nicht alle paar Jahre ein und aus, hier war man seßhaft. Hier draußen lebte man wie in einer kleinen Stadt für sich. Es war ein anmutiges Bild, die alte Dame mit dem im Laufe der Zeit schneeweiß gewordenen Haar am Arm der jungen Enkelin, die wie eine zarte, fremdländische Blüte ausschaute. Ein wenig behäbig, ein wenig schwerfällig war die Großmama schon, aber das Antlitz noch immer rosig, kaum von einer Falte durchfurcht. Mehr noch aber fesselte die liebe, gütige Art, die aus Blick und Wort der alten Dame sprach.
Sie hielt es jetzt an der Zeit, mal ein wenig bei der Enkelin auf den Busch zu klopfen.
»Man darf es der Gerda nicht übelnehmen, wenn sie manchmal ein wenig selbstherrlich
und geistig überheblich erscheint. Sie meint es nicht so.«
»Mir gegenüber ist Gerda niemals überheblich. Wir verstehen uns sehr gut.«
Mariettas Antwort befriedigte die Großmama nicht recht. Also damit war's
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