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Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar

Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar

Titel: Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Else Ury
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und preßte aufs neue die Näschen gegen das Fensterglas, bis Tante Martha mit den Frühstücksbechern erschien.
    Die kleine Gesellschaft mußte heute noch recht lange auf die von allen besonders geliebte Tante Jetta warten.
    Die saß noch drüben in dem roten Backsteingebäude und bemühte sich eifrig, den Ausführungen von Fräulein Dr. Engelhart zu folgen. Das waren Mariettas liebste Stunden bei der Leiterin der Anstalt. Es war nicht nur die anregende Art ihres Vortrages, es war vor allem die Wärme und Herzlichkeit, die sie ausstrahlte. Das schaffte einen unsichtbaren Zusammenhang mit den Schülerinnen und riß selbst die gleichgültigeren mit fort. Oh, es war nicht immer so ganz einfach zu folgen. Hatte man mal auch nur sekundenlang an etwas anderes gedacht - schon hatte man den Faden verloren und irrte wie in einem geistigen Labyrinth umher. Ebenso wie Fräulein Dr. Engelhart an sich selbst die höchsten Anforderungen stellte, so verlangte sie das auch von ihren Schülerinnen. Sie waren keine Schulkinder mehr, sie waren erwachsene Menschen, die wissen mußten, worauf es ankam. Sie mußten reif genug sein, um den Ernst der Arbeit zu erfassen.
    Der Faden der Sympathie, der sich gleich am ersten Tage von Fräulein Dr. Engelhart zu Marietta Tavares hingesponnen hatte, hatte sich befestigt. Marietta war eine der Eifrigsten und Lernbegierigsten und verehrte die Vorsteherin. Und auch diese hatte die Schülerin in ihr Herz geschlossen. Die großen, schwarzen Augen, die so sprechend jede Empfindung ihrer Besitzerin wiedergaben, Mariettas zarter Liebreiz, verbunden mit ihrer Bescheidenheit, hatten es Fräulein Dr. Engelhart angetan. Heute winkte sie ihr nach Beendigung der Unterrichtsstunde.
    »Fräulein Tavares, bitte, noch einen Augenblick.« Und als Marietta nach vorn getreten war, fuhr sie fort: »Sie sind jetzt sechs Wochen drüben im Kinderhort praktisch tätig. Gefällt Ihnen Ihre Arbeit dort?« »Oh, sehr gut«, kam es aus vollem Herzen.
    »Man ist auch dort recht zufrieden mit Ihnen. Nur meinte die Hortleiterin«, Mariettas schwarze Augen wurden ein wenig bange, »daß Sie dort nicht mehr viel zu lernen haben. Sie beherrschen die Horttätigkeit besser als die jungen Damen, die schon länger dort arbeiten.«
    »Ich bin früher schon in verschiedenen Krippen, Horten und Kinderheimen tätig gewesen«, wehrte Marietta bescheiden das Lob ab.
    »Dann haben Sie gewiß den Wunsch, an einer anderen Stelle praktisch zu lernen. Ich dachte mir, vielleicht in der Waisen- oder in der Schulpflege. Ich komme dabei gern Ihren persönlichen Wünschen entgegen.«
    Mariettas Gesicht wurde rosig überhaucht. Ein Zeichen dafür, daß sie erregt war. »Dürfte ich nicht noch einige Zeit drüben im Hort bleiben?« bat sie und raffte allen Mut zusammen. »Ich habe meine Arbeit und vor allem die Kinder dort liebgewonnen. Es würde mir schwer werden, sie so schnell zu verlassen. Die freuen sich schon darauf, mit mir Weihnachten zu feiern, und ich möchte sie nicht enttäuschen.« Fräulein Doktor schüttelte ihr herzlich die Hand.
    »Brav, Fräulein Tavares. So soll es sein, daß man seine Arbeit liebgewinnt und sich schwer davon trennt. Ich habe nichts dagegen, wenn Sie noch einige Zeit drüben bleiben wollen. Freilich müssen wir auch daran denken, daß Ihre weitere Ausbildung nicht darunter leidet.«
    Damit war die Unterredung beendet. Es erfüllte Marietta mit freudiger Genugtuung, daß Fräulein Dr. Engelhart mit ihr zufrieden war.
    Ja ihre kleinen Freunde drüben mußten sich heute noch recht lange gedulden, bis Tante Marietta kam. Für die gab' noch eine Stunde Volkswirtschaftslehre und Sozialpolitik. Das waren ziemlich fremde, schwierige Begriffe, die man sich zu eigen machen mußte. Die Vortragende, ein Fräulein Regierungsrat, war eine ernste Frau, die ihr Feld vorzüglich beherrschte. Sicher war auch sie eine gute Pädagogin, und doch - die Begeisterung, die Marietta in den Stunden bei der Leiterin der Anstalt empfand, blieb dabei aus. Sie lernte aus Pflichtgefühl, und das erschwerte ihr die Arbeit.
    In diesen Stunden glänzte besonders Gerda Ebert. Sie hatte eine bessere Auffassungsgabe als ihre Kusine Marietta und war daran gewöhnt, sachlich klar zu denken. Wenn Marietta irgend etwas nicht verstanden hatte, Gerda wußte es ihr stets zu erklären. Heute gab es eine Meinungsverschiedenheit zwischen den Kusinen. Gerda war nicht damit einverstanden, daß Marietta noch im Kinderhort blieb, wo ihr die Möglichkeit geboten worden

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