Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar
nichts.
Der Großpapa, wieder fünf Schritte voraus, blieb an einer der Querstraßen wie immer stehen. »Links oder rechts?« fragte er, wartete die Antwort aber gar nicht ab sondern bog gleich links ab, wo der baumbestandene Weg über die Bahnüberführung hinaus ins Freie führte. Das heißt, bis man ins Freie kam, dauerte es noch eine ganze Weile. Nicht nur Geheimrats Kinder und Enkel waren herangewachsen auch Berlin hatte sich vergrößert. Hohe Mietskasernen hatten das Gartenland und die grünen Wiesen hier draußen in Lichterfelde verschlungen. Aber schließlich hörten sie doch auf, die sonne- und luftversperrenden Steinkästen, und man war draußen. Es gehörte der bescheidene Natursinn des märkischen Bewohners dazu, um sich an diesem »draußen« zu freuen. Da war zuerst ein Abladeplatz für Schutt und leere Konservenbüchsen. Darauf folgte Baugelände, von Zäunen umschlossen. Nun kamen die kleinen Laubengärten mit ihrem letzten Herbstschmuck. Und dann hörte der staubige Weg auf; man hatte richtiges, wenn auch schon etwas bräunliches Wiesengelände unter den Füßen, auf dem die Jungen ihre buntschweifigen Drachen steigen ließen. Dämmerung umfing dieses freie Land bis zu dem schwarzblauen Kieferngürtel des Grunewalds am Horizont. Der Wind trug auf seinen Flügeln den herben Duft von welkenden Blättern. Der alte Geheimrat liebte dieses Stückchen Erde; es war sein Lieblingspaziergang. Er blieb stehen und wartete auf seine Damen. »Schön hier draußen, gelt? Aber ihr kriecht ja im Schneckentempo. Dazu hast die Stütze deines Alters am Arm, Fraule?«
»Die Stütze deines Alters« - es gab Marietta einen Stich durchs Herz. Ihr war in der frischen Herbstluft so leicht und frei zumute geworden; alles Beschwerende war von ihr abgefallen. Aber jetzt war es plötzlich wieder da.
»Du könntest auch an der Stütze unseres Alters teilhaben, Rudi«, ging Frau Annemarie auf den Scherz ein. »Wenn du nur nicht immer als Schnelläufer vorangaloppieren würdest.« »Komm, Großpapa, ich habe noch einen Arm frei«, meldete sich nun auch Marietta. »Nein, nein, ich stütze mich lieber auf meinen Stock. Auf euch junges Volk ist kein Verlaß. Eines schönen Tages geht ihr auf und davon, und wir Alten haben das Nachsehen«, neckte der Großpapa.
»Unsere Jetta geht nicht auf und davon, die bleibt bei uns«, sagte die Großmama zuversichtlich und drückte liebevoll den Arm der Enkelin.
»Und wenn sie uns irgendeiner fortkapert, wie dann, Fraule? Alles schon mal dagewesen.« »Ja dann - wenn's der Richtige ist - dann hätte ich ganz gewiß nichts dagegen einzuwenden«, bekräftigte die Großmama.
»Mich kapert keiner fort - höchstens meine Arbeit.« Wie dumm - Marietta biß sich auf die Lippen, durch die sich gegen ihren Willen ein schwerer Seufzer Bahn brach. Großmamas Ohr war zwar nicht mehr so fein wie früher, aber sie verstand dafür mit dem Herzen zu hören. Sie blieb atemschöpfend stehen und ließ ihrem Mann wieder seine fünf Schritt' Vortrab.
»Jetta, Seelchen, was ist mit deiner Arbeit? Irgend etwas ist da nicht in Ordnung. Du bist verstimmt und bedrückt. Willst du dich nicht wie sonst aussprechen? Zu zweit trägt man jede Last leichter.«»Ich darf dich nicht damit beschweren, Großmuttchen.« Marietta war zu ehrlich, um Ausflüchte zu machen.
»Hat mein Kind kein Vertrauen mehr zu seiner alten Großmutter?« Es klang traurig. Dagegen war die weichherzige Marietta nicht gewappnet. Noch einen Augenblick schwankte sie, dann brach es sich Bahn. »Ich wollte dich damit verschonen, Großmuttchen, aber wenn du es denn wissen willst - ich muß mich entscheiden, ob ich in die Tropen zurückgehe oder hierbleibe.« Mariettas Stimme klang vor Erregung belegt. Lachen - innerlich befreites Lachen antwortete. Was - die Großmama konnte darüber lachen - sie nahm es nicht ernst? Nun, um so besser. »Seelchen, weiter ist es nichts ... nun, darüber brauchen wir uns doch heute noch nicht den Kopf zu zerbrechen. Kommt Zeit, kommt Rat.«
»Heute nicht - aber doch in nächster Zeit. Es handelt sich um die praktische soziale Tätigkeit. Wir müssen uns für ein Spezialgebiet entschließen. Wenn ich mich für die Arbeiterfürsorge entscheide, tue ich es nur, um in Brasilien den Plantagenarbeitern gesündere und menschenwürdigere Lebensbedingungen zu verschaffen. Aber dann müßte ich euch verlassen, euch und Deutschland - ich fürchte mich davor, wieder in den Tropen zu leben. Ich stehe am Scheidewege und weiß nicht,
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