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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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ihm genug Zeit für seine Eskapaden bleiben würde.
    Im Januar 87, ein halbes Jahr vor Veras Ausreise, schickte ich Bewerbungen an alle Theater des Landes; es waren ungefähr vierzig (fand man nicht selbst eine Arbeitsstelle, lief man Gefahr, von der Uni an eine Bibliothek, ein Museum oder einen Verlag vermittelt zu werden) 238 . Vier Theater luden mich ein: Potsdam, Stendhal, Zeitz und Altenburg. Kurz darauf fand ich in meinem Fach einen Brief Antons, der sehr förmlich begann, weshalb ich das Ganze für einen Scherz hielt. Ein paar Zeilen später traute ich meinen Augen nicht. Da er, Anton, mir schon das ganze Land überlasse, habe er gehofft, ich besäße im Gegenzug so viel Anstand, auf Berlin und Potsdam zu verzichten.
    Vera schwärmte wegen des Lindenau-Museums von Altenburg und weil Gerhard Altenbourg in Altenburg wohne und der ginstergesichtige Hilbig 239 aus dem nur wenige Kilometer entfernten Meuselwitz stamme. Außerdem habe die Stadt den Krieg praktisch unbeschadet überstanden.
    Also fuhr ich nach Altenburg, und da der Intendant – ein Mann Ende Dreißig mit langen Haaren und einem bis zum Brustbein aufgeknöpften Hemd – mir nach zehn Minuten erklärte, ich sei eingestellt, sofern ich das Praktikum überstünde, bedeutete mein erster Gang durch die Stadt bereits eine Besichtigung jenes Schauplatzes, an dem mein eigentliches Leben beginnen sollte.
    Es schneite. Die Auffahrt zum Schloß lag in makellosem Weiß vor mir. Ich hatte Kopfschmerzen, wegen der Aufregung und wegen meiner Ersatzbrille, deren Gläser andere waren als bei meiner richtigen Brille (die Vera auf dem Gewissen hatte). Die Flocken, so groß wie Briefmarken, fielen mit jedem Schritt dichter. Als ich mich umwandte und wie durch einen Schleier unter mir das Theater und die sich nach Westen erhebende Stadt sah, waren meine ersten Fußstapfen bereits kaum noch zu erkennen.
    Nach einer Runde durch den Schloßhof (das war vor dem Brand) ging ich zum Park, in dem der Verlauf der Wege nur mehr an den Bänken auszumachen war. Am Fuße des Hügels, durch das Schneetreiben in die Ferne gerückt, lag das Lindenau-Museum. Alles, was ich davon kannte, waren Abbildungen antiker Vasen. Ihnen muß ich nicht beschreiben, was geschieht, wenn man hinaufgestiegen ist, das Oktogon durchquert hat und dann die Flucht mit den Italienern betritt. Ich wußte fast nichts über die Sienesen, sehr wenig über die Florentiner, 240 und doch war es wie eine Ankunft. Sie glauben vielleicht, ich redete Ihnen nach dem Mund. 241 So, wie manch einer leidet, wenn er die Elbeoder das Meer entbehren muß, würde ich nirgendwo mehr hinziehen, wo ich nicht solch einen Schatz in der Nähe wüßte.
    In den großen Sammlungen von Dresden, Prag, Łódź, Budapest oder Leningrad fehlt es an Stille. Hier jedoch ist man allein mit dem Bild. Selbst die Leute von der Aufsicht bleiben verborgen und bringen sich allenfalls durch das entfernte Knarren des Parketts in Erinnerung. Hier war ich bereits in Italien. Hier begriff ich, daß das Beste der Renaissance aus der Vor-Renaissance stammt. Hier konnte ich die zweihundert Jahre Revue passieren lassen, die nicht nur für die italienische Kunst, sondern für den ganzen europäischen Geist so entscheidend gewesen sind. 242
    Bis heute sind mir die Bilder, die ich damals ins Herz schloß, die liebsten geblieben. Natürlich die drei Guido da Sienas, Christus im Grab von Lorenzetti, die Madonna von Lippo Memmi, die Anbetung des Taddeo di Bartolo, die Kreuzigungen des Giovanni di Paolo, überhaupt alles von ihm und von Lorenzo Monaco, natürlich Masaccio, aber fast noch lieber Fra Angelicos Feuerprobe des Franziskus, mit dem zweiflerischen Sultan auf dem Thron, auch seine Heiligen, der Hieronymus von Lippi, Botticellis strenge Katharina, Signorellis artistische Folterknechte, die Madonnen seiner Grablegung, die Verkündigung von Barnaba da Modena, Puccinellis Madonna mit den Engeln und Heiligen, die Freude der einen, der sich der Jesusknabe zuwendet.
    Als ich aus dem Museum trat, leuchtete ein blaurotes Stück Nachmittagshimmel über mir.
    Drei Wochen später passierte ich mit einem Kopfnicken die Theaterpforte, bekam die Gittertür zu fassen, bevor sie hinter einer Tänzerin im Gymnastikanzug ins Schloß fallen konnte, und erstarrte bei einem schrillen »Halt!«. Die Pförtnerin war aufgefahren und drückte ihre Stirn gegen die Scheibe. Zur Rede gestellt, wer ich sei und wohin ich wolle, hatte ich schließlich »Hoffmann! Undine!«

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