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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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geantwortet.
    »Zurück! Ganz zurück!« Mit meiner Umhängetasche versperrte ich den anderen den Weg. Ich sollte erklären, warum ich versucht hatte, ins Theater »einzudringen«. Über meine Bitte, den Intendanten anzurufen, lachte sie, griff zum Hörer, ließ mich aber nur aus den Augen, wenn sie einen Finger in die Drehscheibe des Apparates stieß. Sie fragte mich immer dann nach meinem Namen, wenn jemand hereinkam. Mehrmals zwang sie mich, »Enrico Türmer« zu rufen, es etwas lauter »bitte schön« zu wiederholen, die beiden Worte zu buchstabieren, so daß alle, bevor ich überhaupt das Theater betreten hatte, den Namen jenes dummen Jungen da an der Pforte erfuhren. »Kennt
ihr
vielleicht einen Türmer, Enrico?« – sprich: Dürmer, Ähnriegoh. Der unbestimmte Artikel vor meinem Namen löschte mich aus.
    Ich bat darum, die Chefdramaturgin zu benachrichtigen. Entrüstet ließ die Pförtnerin den Hörer sinken, legte einen Finger auf die Telephongabel und drückte sie herab. Sie wisse, was sie zu tun habe, sie brauche keine Belehrungen. Außerdem kenne man mich dort genausowenig.
    »Er weiß ja nicht, wohin er will«, rief sie erneut in den Hörer, während zwei Tänzerinnen vorübertrippelten, »das isses ja doch, was mich so aufregt, das isses ja«, worauf ich immer nur »Hoffmann, Hoffmann!« erwiderte.
    »Hier kennt Sie niemand«, beschied sie mir und legte den Hörer auf. Sie musterte mich noch einmal, bevor sie sich erschöpft zurücklehnte und in irgend etwas zu blättern begann,das die ganze Zeit vor ihr gelegen hatte. Es war unklar, ob sie weiter in meinem Fall ermittelte oder mich bereits ad acta gelegt hatte.
    »Warten!« rief sie mitten im Umblättern und griff erneut zum Hörer, als von rechts eine Frau in weißer Bluse aus dem Dunkel des Treppenhauses auftauchte, die drei Stufen zu mir herabsprang und mich so herzlich ansah, daß ich eine Verwechslung befürchtete.
    »Ich weiß, wer Sie sind«, sagte sie lächelnd, schob ihren Arm unter meinen und lenkte meine Schritte Richtung Pförtnerin.
    »Darf ich Ihnen«, sie nannte die Pförtnerin beim Namen, »Herrn Türmer, unseren neuen Dramaturgen vorstellen …« Die Pförtnerin kam diesmal erst beim zweiten Versuch von ihrem Stuhl hoch, streckte eine Hand durch die ovale Luke in der Scheibe und rief: »Warum sagt er das denn nicht gleich!« Danach durchschritten wir die Pforte.
    Die Frau in der weißen Bluse geleitete mich durch ein Labyrinth aus Gängen und Treppen. Alle paar Meter wechselte der Geruch. Wir kamen am Ballettsaal vorbei, an der Kantine, passierten ein barockes sandsteinernes Treppenhaus und standen im Dunkeln. Ich hörte einen Schlüssel und betrat nach ihr ein Zimmer, durch dessen Vorhänge kaum Licht drang. Es roch nach Mittagessen.
    Auf dem Rückweg blieben wir vor einer weißen Flügeltür stehen und lauschten. Plötzlich drückte meine Führerin die Klinke, nickte mir zu und schob mich hinein, gerade als das Klavier wieder einsetzte.
    Wer ich sei, was ich wolle, wer mich geschickt habe … Meine gute Fee war verschwunden, der Regisseur, kaum älter als ich, mit einem Haarschnitt, der seinen Hinterkopf zur Geltung brachte, hatte die Probe unterbrochen und blätterte hastig im Klavierauszug.
    Ich nannte meinen Namen, ich wiederholte meinen Namen. Ich ließ mir von dem unentwegt weiterblätternden Regisseur sagen, daß man weder ungefragt an einer Probe teilnehme noch sie unterbreche. Zumindest er, der Regisseur, wenn nicht das gesamte Ensemble, müsse vorher um Erlaubnis gebeten werden. »Vorher!« wiederholte er und hielt endlich im Blättern inne. Ob ich das getan hätte? Nein, antwortete ich, das hätte ich nicht getan. Begründen konnte ich mein Fehlverhalten nicht mehr. Ein am Boden kniender Herr mit Baßstimme empörte sich über die Mißachtung seiner Person. Wie lange er denn hier noch rumkriechen solle, ob wir keine Augen im Kopf hätten. Er hatte »sie« gesagt, dabei aber nur mich angesehen.
    Die Position, in die ich durch meinen ersten Auftritt geraten war, habe ich in den fünf Wochen, da ich bei Tim Hartmanns »Undine«-Inszenierung hospitieren durfte, kaum verbessern können. Ich hatte alles verschlimmert, indem ich jeden siezte. Tim Hartmann sah einen Affront darin, von mir nicht wie von den anderen mit Tim angesprochen zu werden. Ich fand es furchtbar, die Tür zur Kantine zu öffnen, furchtbar, mit Bockwurst und Kaffee die Theke zu verlassen, furchtbar, mich an einen freien Tisch zu setzen, furchtbar, mich zu den

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