Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
Vom Netzwerk:
Schwarz, Schwarz – alles auf Rot? Sechs Bleus zwischen den Fingerspitzen. Ich mußte es tun, ich verlangte es von mir. Eine Krämerseele wollte ich nicht sein!
    Die Kugel lief – nein! Nicht auf Rot, nicht Ungerade, nicht Passe – weiter zweites Drittel! Als einziger baute ich dort mein blaues Türmchen.
    Beim »Rien ne va plus«, das wie eine Glasglocke über den Tisch sank, blickte ich zum ersten Mal auf zur Decke, sah in der Ecke vor mir das meterhohe Wandbild »Le matin«. Was hieß »Le matin«? Mein Blick irrte über die leeren Restauranttische rechts von mir hinaus in die Nacht. Denk nicht an Sieg, ermahnte ich mich, finde dich ab, du hast richtig gehandelt.
    Es klackte mehrmals, die Kugel sprang – ich sah hin, im selben Augenblick kam die Ansage. Ich verstand den Croupier nicht, aber ich sah sie, die Dreizehn, ich sah sie zum zweiten Mal und dann noch einmal, Dreizehn. Zu welchem Drittel gehörte die Dreizehn? Sechsunddreißig durch drei, zwölf, zwölf, zwölf. Ich schrie nicht auf. Im Gegenteil, als hätte ich die ganze Zeit gestanden, hatte ich nun das Gefühl, mich endlich zu setzen.
    Der Sommersprossige starrte in sein Heft. Der Tisch wurde abgeharkt, niemand hatte gewonnen – nur ich! Ich allein! Analysieredu nur, während ich spiele, lachte ich still den Sommersprossigen aus. Und wenn ich wieder gewonnen habe, dann kannst du wieder darüber nachdenken und wieder analysieren, wie ich das gemacht habe. Und so immer weiter, bis ans Ende unserer Tage!
    Mein blauer Turm zerfiel zwischen den Fingern des Croupiers in sechs Jetons, ich zählte mit – und erhielt außer zwei weiteren Bleus endlich meinen Lipizzaner!
    Nie hätte ich gewagt, von diesem weißen Viereck zu träumen! Wenn ich etwas bedaure, dann nur, daß ich meinen Lipizzaner nicht länger als zwei Minuten besaß. So lange brauchte ich, um mein Häuflein zusammenzuraffen und nach einem grußlosen Abschied zum Kassierer zu gehen.
    Ich war zu matt, um mir den Schweiß von der Stirn zu wischen. Im Foyer wurde mir etwas zugerufen, eine ganze Gruppe lachte laut. Ich war bleich, mein Gang übertrieben zielgerichtet – man hielt mich für das Sinnbild des Verlierers.
    Als ich unser Zimmer betrat, hielt sich Vera gerade die Hand vor die Augen, im Fernsehen Schreie. Ich verschwand ins Bad, ächzte und würgte und rang nach Luft – nichts.
    Ich weiß nicht, wie ich den Rückflug überstehen soll. Gerade kommt mein dritter Tee. Immer noch peinigt mich die Vorstellung, ich hätte im entscheidenden Augenblick versagen und nicht den gesamten Gewinn setzen können. 236 Wenn ich da gekniffen hätte, ich könnte mir selbst nicht mehr in die Augen schauen. Wie Du siehst, habe ich aufgehört zu fragen und begonnen zu verstehen.
    Ich soll Dich grüßen! sagt Vera. Sie drängt zum Aufbruch.
    Dein Enrico
    PS : Als wir zum Taxi gingen, saß wieder John am Rezeptionstisch. Er verbeugte sich, ich reichte ihm die Hand und steckte ihm zum Abschied einen Hunderter zu. Ich sah sofort, daß ich keinen Fauxpas begangen hatte.
    Vera und ich haben uns in Frankfurt am Main getrennt. Sie stieg in den Zug nach Berlin, ich in den nach Leipzig. Sobald Vera die Wohnung in Berlin aufgelöst hat, wird sie für ein paar Wochen nach Altenburg kommen. Ich habe ihr meinen Gewinn geschenkt, und das verschaffte mir zum Schluß doch noch Erleichterung.

 
     
    Mittwoch, 16. 5. 90
     
    Liebe Nicoletta!
    Es ist schon eigenartig. Jetzt, da ich mich in meiner Erzählung jenen Tagen nähere, in denen ich Michaela zum ersten Mal begegnete, gerade da trennen wir uns. Kein böses Wort ist gefallen, das haben wir längst hinter uns. Robert sagte, er und ich blieben zusammen, wir seien eine Familie, er, ich, Michaela und meine Mutter natürlich, egal was passiert. »Wir sind und bleiben eine Familie«, versprach ich.
    Pech in der Liebe, Glück im Spiel. Ich habe tatsächlich ein paar Tausender gewonnen, so daß einem Ausflug nach Bamberg oder Italien bereits heute nichts im Wege stünde. 237 Soviel zur Gegenwart.
    Ohne Anton wäre ich weder zum Theater noch nach Altenburg gekommen, ich hätte Michaela und Robert nicht kennengelernt, wäre kein Zeitungsmensch geworden, und wir beide wären wohl auch aneinander vorbeigelaufen.
    Anton wollte Dramaturg werden und nach Berlin ziehen. Beides verfolgte er mit einer Unbedingtheit, der er alles zu opfern bereit war. Anton erklärte mir, was ein »Dramaturg« zu machen habe. Auch er suchte ja keine Arbeit, sondern ein komfortables Unterkommen, bei dem

Weitere Kostenlose Bücher