Neue Leben: Roman (German Edition)
»Verdammt!« Er hatte seine Hosen bepißt, er hatte es gar nicht gemerkt. Er richtete sich auf. Die Hosen zog er gar nicht wieder hoch, sondern trat darauf, bis er sie samt der Stiefel und Socken los war.
Er knöpfte die Pistolentasche auf, zog die Pistole heraus, warf sie im weiten Bogen von sich und sah, wie sie lautlos in dem hohen feuchten Gras verschwand. Er wollte nichts mehr mit der Armee zu tun haben.
Schnell entledigte er sich der restlichen Sachen. Ihn fröstelte ein wenig, dafür aber genoß er die Entspannung seines Schließmuskels. Jeder Schritt war nun eine Wohltat, die seinen Gang geschmeidiger machte. Die Kondensstreifen der Düsenjäger färbten sich bereits rötlich, die neueren sahen aus wie Äderchen im Weiß des Auges, andere waren breit und durchscheinend, als hätte jemand einen Pinsel abgestrichen.
Er verlangte nur ein wenig zu trinken und etwas Nahrung für sich, doch selbst diesem Wunsch maß er keine weitere Bedeutung bei. Würde er zukünftig überhaupt Wünsche hegen? Und was würde an Erinnerungen bleiben? Vielleicht ein Lied, eine Melodie, oder nicht mal das? Er nahm es hin, nein, es kümmerte ihn nicht, er dachte schon gar nicht mehr daran.
Der Gefreite Türmer kratzte sich am Bauch. Er sah an sich herab und betrachtete unglücklich, ja fast angeekelt seinen käsigweißen und mit Pickeln und Leberflecken übersäten Körper. Wie merkwürdig der Mensch doch roch. Die Kühe hatten sich erhoben und glotzten ihn an. Es tröstete ihn, lebendige Wesen in seiner Nähe zu wissen.
Ihn verlangte danach, sich in das hohe feuchte Gras zu legen, sich zu reinigen und zu erfrischen. Der Gefreite Türmer ging auf die Knie, ließ sich zur Seite fallen und spürte im nächsten Moment den Morgentau an seinem Rücken. Genau über sich erblickte er den erblaßten Mond. Wohlig stöhnend wälzte sich der Gefreite Türmer vom Rücken auf den Bauch und wieder zurück, er scheuerte sich die Schultern, den Hintern, Bauch und Brust und drückte seine Stirn auf die Erde.
Wieder auf dem Rücken, streckte er seinen linken Arm zum Himmel und löste das Armband seiner Uhr – da traf ihn an den Fingerkuppen der erste Sonnenstrahl. Der Gefreite Türmer spürte noch, wie er aufschluchzte und wie die Uhr von ihm abfiel.
Im nächsten Augenblick sprang er auf alle viere, schüttelte sich und heulte hinauf zur rosafarbenen Mondscheibe. Er fletschte die Zähne. Die Kühe begannen zu brüllen, machten kehrt und versuchten zu fliehen. Er wollte etwas rufen, er wollte sprechen, aber alles, was er hervorbrachte, war Knurren und Winseln.
Dann hielt er inne. Nur die Kühe waren zu hören und ganz entfernt das Glockengeläut einer Dorfkirche. Der Wolf schnüffelte an der Uhr, wich den im Gras liegenden Stiefeln und Uniformteilen aus und trabte lautlos davon, durstig, hungrig, gierig.
DANKSAGUNG
Ich danke dem Berlin Verlag, vor allem meiner Verlegerin Elisabeth Ruge, sowie Julia Graf und Fridolin Schley für all ihre Vorschläge und Verbesserungen.
Besonderen Dank auch an Silvia Bovenschen für freundschaftliche Gespräche und Anregungen, die Entstehung und Abschluss dieses Buches begleiteten.
Ermutigung und Kritik erhielt ich von:
Ursula Bode, Christoph Brumme, Jörg Feßmann, Ulf Fischer, Matthias Flügge, Robert Fürst, Ulrike Gärtner, Thomas Geiger, Martin Jankowski, Reinhard John, Simone Kollmorgen, Katja Lange-Müller, Carsten Ludwig, Elena Nährlich, Jutta Penndorf, Sarah Schumann, Lutz Seiler, Elisabeth Türmer, Vera Türmer, Frank Witzel, John Woods, Johann Ziehlke.
Dank schulde ich Mario Gädtke dafür, daß ich sein Gedächtnisprotokoll verwenden durfte, und Jens Löffler für den Satz des Buches.
Der Joseph-Breitbach-Preis ermöglichte mir ein finanziell sorgenfreies Arbeiten. Großzügige Unterstützung erhielt ich außerdem von der Berliner Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur, dem Deutschen Haus in New York und der Stiftung Kulturfonds.
Vor allem aber danke ich Natalia Bensch und Christa Schulze, denen das Buch gewidmet ist.
Über den Autor:
Ingo Schulze
wurde 1962 in Dresden geboren, studierte klassische Philologie in Jena und arbeitete in Altenburg als Schauspieldramaturg und Zeitungsredakteur. Seit 1993 lebt er in Berlin. Bereits sein erstes Buch
33 Augenblicke des Glücks
(1995) wurde vielfach ausgezeichnet. Für
Simple Stories
(1998) erhielt er den Berliner Literaturpreis mit der Johannes-Bobrowski-Medaille. 2005 erschien sein großer Roman
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