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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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Hintergrund lief ein Klavierkonzert von Chopin. Alles war dazu angetan, mich glauben zu machen, die Welt sei dieselbe wie bei unserem letzten Besuch im April.
    Plötzlich trieb Thomas zur Eile. Zum ersten Mal hörte ich von dem Treffen der »Gewerkschaftsvertrauensleute der Theater«. Thea sollte dort das »Gedächtnisprotokoll« ihrer Verhaftung vortragen. Ich hoffte mich durch mein Versprechen, den Tag mit Robert zu verbringen, dieser Zumutung entziehen zu können. Doch Robert hatte jedes Interesse am Planetarium verloren. Also mußte ich mit ins Deutsche Theater.
    Wir fanden nur im zweiten Rang Platz. Ich schwor mir, zum letzten Mal auf Michaela Rücksicht genommen zu haben. Von denen, die auf der Bühne saßen, kannte ich nur Gregor Gysi. Man müsse den psychischen Druck, der auf den Bereitschaftspolizisten laste, berücksichtigen, sagte er, die seien einfach strukturiert und auf Situationen wie diese gar nicht vorbereitet.
    Es wurden Gedächtnisprotokolle verlesen, von Schlägen auf Rücken, Beine, Nieren und Kopf war die Rede. Thea las ohne Pathos, ihr Bericht war einer der kürzesten. Einmal sagte sie: Das möchte ich nicht wiedergeben. Zwei Frauen vor uns weinten.
    Applaus, Gelächter, Buh- und Zwischenrufe wechselten einander fast gleichmäßig ab. Plötzlich wurde es lauter. Von überall her Hohngelächter, wie es gestern abend auch über mich niedergegangen war. Ich glaubte, vorher Gysis Stimme gehört zu haben.
    »Er hat die Stirn, uns zu fragen, warum wir die Demonstration nicht
angemeldet
hätten!« rief Michaela mir ins Ohr.
    Das hat dir der Teufel souffliert! schoß es mir durch den Kopf.Dabei lachte ich. Natürlich wurde weitergeredet, aber eben nur, um zu reden; man flüsterte, man räusperte sich, rutschte auf den Stühlen herum und unterhielt sich ungeniert. Doch die teuflische Saat ging auf.
    Ich bin mir nicht sicher, denke aber, daß es der Intendant des Schwedter Theaters war, der da wie ein Besessener auf die Bühne stürmte. Mit bebender, fast erstickter Stimme schrie er, auch weil er das Mikro zu weit weghielt, daß, wenn hier schon davon die Rede gewesen sei, daß man Demonstrationen beantragen solle, daß er dann beantragen wolle, daß diese Beantragung jetzt hier und überall erfolgen solle, daß in allen Städten, daß überall dort, wo ein Theater sei, wo es Leute wie uns gebe, daß dort Demonstrationen beantragt werden sollten, überall, im ganzen Land! »Danke!« rief er in den Applaus und Jubel, der über ihn hereinbrach. Thea und Michaela waren aufgesprungen und klatschten.
    Auf der Bühne wurde sofort das Procedere besprochen, welche Fristen eingehalten werden müßten und so weiter. Zum Schluß stand als Termin der 4. November fest.
    Abends, auf der Rückfahrt, hielten wir in Leipzig und gingen ins »Astoria«, ich habe es Ihnen gezeigt, dieses noble Hotel direkt am Ring, unmittelbar neben dem Bahnhof. Man ließ uns ein, wir bekamen Plätze und aßen fürstlich. »Eigentlich geht es uns doch gut«, sagte ich. Daß die Straße vor dem »Astoria« dieselbe sein sollte wie die, auf der vor dreizehn Tagen ein Militärkordon gestanden hatte, über die vor sechs Tagen siebzigtausend Demonstranten gezogen waren, schien jetzt genauso unwirklich wie die Annahme, morgen könnte es hier zu einer Schlacht kommen.
    Am Montag saß ich ab zehn auf meinem Platz in der Dramaturgie, las ein wenig, ging um zwölf in die Kantine und fuhr um zwei nach Hause. Ich kümmerte mich um den Haushalt, ich ging einkaufen, ich legte mich hin, später machte ich Abendbrot. Danachsetzte ich mich mit Robert vor den Fernseher. In der Tagesschau hieß es, in Leipzig wären hundertfünfzigtausend auf die Straße gegangen. Kein Wort über Festnahmen oder Straßenschlachten.
    Michaela, die kurz darauf eintraf, 317 blieb mit offenem Mantel neben uns stehen. »Wirklich?« fragte sie. »Hundertfünfzigtausend!?« Sie sah unentwegt in den Fernseher, obwohl dort schon etwas ganz anderes lief.
    Am Dienstag morgen warteten Michaela und ich um neun im Sekretariat, weil Jonas am Montag nicht im Haus gewesen war. Halb zehn bat er uns herein, bestellte bei seiner Sekretärin drei Kaffee und lehnte sich in seinem Thron, der dem Fundus entstammte, zurück. Sein Lächeln blieb nahezu unverändert, während Michaela ihn von dem »Berliner Beschluß« unterrichtete und ihn aufforderte, eine Demonstration für Presse- und Meinungsfreiheit anzumelden.
    »War’s das?« fragte er. Ob uns klar sei, was wir da sagten, ob wir das ernst

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