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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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sollte jeder sehen, wie schwer es ihm fiel, nicht laut loszulachen.
    »Ich kann dir nur sagen, daß ich stolz darauf bin«, sagte der lange Bart. »Und das kann jeder wissen.« Er setzte sich aufrecht hin. »Wißt ihr, was ich gestern gemacht habe?« Dann erzählte er, daß die Baufirma, bei der er arbeitet, ihn für eine Reparatur in die Villa der Staatssicherheit geschickt habe. Mittags habe er in deren Kantine gegessen und ein paar Bekannte getroffen. Denen habe er erklärt: »Ich bin im Neuen Forum. Guckt euch mal unser Programm an, da werdet ihr nichts Schlechtes finden! Und dann hab ich gesagt, ich bin stolz drauf, im Neuen Forum zu sein. Das kann jeder hören. Und wenn ich die Wirtschaftsgruppe leiten darf, kann das auch jeder wissen. So, Jürgen, und jetzt kannst du weitermachen.«
    Nachdem ich ihnen die Teekanne gebracht hatte, schloß ich Wohnzimmer- und Küchentür. Ich räumte auf und begann vor lauter Ratlosigkeit, den Fußboden zu wischen, bis Michaela mich rief. Sie saßen bereits vor der Glotze.
    Als ich Krenz sah, wußte ich, daß nichts passieren würde. Sein Gerede von der nicht real genug eingeschätzten Entwicklung, von Aderlaß und seine neue Empfindsamkeit für die Tränen der Mütter und Väter beruhigten selbst Schmidtbauer. Vielleicht war ich nur deshalb von Krenz, von seiner Gesichtslosigkeit, so überrascht, weil ich nie richtig hingesehen hatte. Diese bedauernswerte Kreatur sprach, als ekelte ihn jedes Wort, als wäre diese Rede ein Fraß, den er vor aller Welt herunterzuwürgen habe. Zudem kannte ich ihn nur im Schillerkragen, wie meine Mutter es nannte, wenn die Funktionäre den Kragen des Blauhemds 319 über den ihres grauen Anzuges schlugen. Mit weißem Hemd und Krawatte sah er aus wie ein Zirkusbär.
    Als die drei gegangen waren, öffnete ich das Fenster, und Michaela sagte, daß sie nun nicht mehr ins Theater fahren müsse. Zusammen mit Jörg, dem kleinen Bärtigen mit der Baskenmütze, werde sie die Medien- und Kulturgruppe des Neuen Forums leiten. Ich fragte, ob Leute wie Schmidtbauer es wert seien, sich ihretwegen zu gefährden. Michaela sagte, Schmidtbauers Frau habe ihn mit zwei kleinen Kindern sitzengelassen. Wie würde ich denn reagieren, wenn an unserem Auto morgens plötzlich alle Radmuttern locker wären?
    Wieso bemerkte Michaela Schmidtbauers Kleinkariertheit nicht, seine Geltungssucht und Empfindungslosigkeit? Doch je mehr ich mich über
ihn
aufregte, desto lächerlicher schien
ich
in ihren Augen zu werden.
    Am nächsten Morgen ging es genauso weiter. Da Michaela abends Probe hatte, sollte ich sie vertreten und in der Kirche über das Berliner Treffen und die angemeldete Demonstration sprechen. Ich weigerte mich. »Und warum?« fragte Michaela. Sie klang so hart, so kalt, als hätte ich sie betrogen. »Darf ich das wissen?«
    »Weil ich mit diesen Leuten nichts mehr zu tun haben will«, sagte ich und äffte das wichtigtuerische Kopfnicken des Bassisten nach.
    In der Art, wie Michaela die Luft durch die Nase blies, lag so viel Verachtung, daß ich ahnte, was uns bevorstand. Fünf Minuten später sagte sie: »Ich verstehe dich nicht, Enrico. Ich kann dich einfach nicht mehr verstehen.« Ich schwieg und ging abends in die Kirche.
    Eigentlich war alles so, wie ich mir früher den zukünftigen Ruhm ausgemalt hatte. Ich lief durch ein regelrechtes Spalier nach vorn, die Leute erkannten mich wieder, und manche riefen mir sogar etwas zu. Jemand forderte,
ich
solle die Sache hier in die Hand nehmen. In der ersten Reihe rechts war für mich der Platz am Mittelgang reserviert. Es war mir unangenehm, Michaelas Namen und unsere Adresse auf einem gut sichtbar aufgehängten A1-Blatt zu lesen, das zur Mitarbeit in der Medienund Kulturgruppe einlud.
    Sie begannen mit einiger Verspätung. Reden, Musik, Reden. Nach einer Dreiviertelstunde war ich endlich dran. Es war so still, als hielten die Leute tatsächlich den Atem an. Ich berichtete von dem Treffen in Berlin. Dafür brauchte ich eine Minute. So beiläufig wie möglich fügte ich hinzu, daß wir für den 4. November eine Demonstration angemeldet hätten. Wieder gab es Jubel, wieder zogen die Leute auf die Straße, wieder kam Pfarrer Bodin nicht mehr zu Wort. Und als ich aus der Kirche kam, standen auch wieder die beiden Polizisten da. Der Blonde lächelte.Der Schwarze drehte sich vor Aufregung um die eigene Achse. Wir gaben uns die Hand. Dieselbe Strecke wie letztes Mal, sagte ich. Daraufhin stiegen sie in ihren Lada. Ich redete mich

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