Neue Leben: Roman (German Edition)
und sah gleich wieder geradeaus. Da hörte ich meinen Namen. Die Haushaltswarenfrau kam auf mich zu. Ihr Händedruck war kräftig. Um sich zu verabschieden, sei es zu früh, und ihr tue es auch ein bißchen leid, weil man sich ja schon aneinander gewöhnt habe, doch die Gelegenheit sei eben günstig. Ihr Mann reichte mir ebenfalls die Hand. »Nu scho«, sagte er. »Nu is bold Schluß.« – »Sie wollen doch nicht aufgeben?« fragte ich. Alle drei nickten.
»Doch, doch«, sagte sie. Im Frühjahr seien sie Rentner geworden, und mit so einem Laden sei sowieso kein Blumentopf mehr zu gewinnen, was sollten sie sich also noch weiter abrackern. 315 Sie sahen mich an, als hätten sie das nur gesagt, um meine Reaktion zu testen. Bevor ich mir eine Antwort überlegthatte, erinnerte sie mich an die kostenlose Annonce, die ich ihnen einmal versprochen hätte. Ich erneuerte mein Angebot. Je schneller sie draußen sind, desto eher haben wir unsere Anzeigenannahme in ihrem Geschäft.
Ach, Jo, mein Lieber, es passiert jeden Tag so viel. Als ich auf den Parkplatz kam, lehnte eine Frau an meinem Wagen. Ihr war es peinlich, daß ich sie eher gesehen hatte als sie mich. Es war die Frau von Ralf, dem Braunauge, mit dem zusammen ich im Januar bei der Sitzung des Neuen Forums an einem Tisch gesessen hatte. Ralf verliert am ersten Juli seine Arbeit als Fahrzeugschlosser. »Er spricht nicht, er schläft nicht, er ißt nicht«, sagte sie. Und jetzt soll ich helfen! Wir verabredeten einen Termin, an dem Ralf und sie kommen sollten. Dann beging ich den Fehler, sie nach Hause zu fahren. »Dort sitzt er, dort hinterm Fenster«, sagte sie beim Aussteigen und bat mich, doch gleich mitzukommen.
Ich habe so etwas noch nie erlebt. Er sah kurz auf, grüßte aber nicht zurück, wandte sich ab und ließ mich reden. Was sollte ich sagen? Ich kann ihn ja schlecht als Akquisiteur einstellen! Es war völlig sinnlos. Mein Auftritt nahm seiner Frau wohl den letzten Rest Hoffnung. Als ich versprach, in ein paar Wochen wiederzukommen, heulte sie los.
Ich fuhr danach in die »Schiedsrichterklause«, allerdings in einem großen Bogen über die Felder, das Dach zurückgeklappt, um mich so richtig durchlüften zu lassen.
Zum Schluß noch etwas Erfreulicheres: Ich soll Dich von Nikolai grüßen, dem schönen Armenier. Der ist inzwischen mit einer Jugoslawin verheiratet. Wir haben Wetten auf das Spiel abgeschlossen. 316 Wer verliert, kommt den anderen besuchen …
Sei umarmt, Dein E.
Sonnabend, 9. 6. 90
Liebe Nicoletta!
Mit der Kirchenrede hatte ich mein Pulver verschossen, was in meiner Macht stand, war getan. Ich wußte nicht weiter. Ich empfand eine große Leere. Michaela sprach von Depression und ließ sich diesen Begriff auch nicht mehr nehmen. Verdenken konnte ich es ihr nicht. Schließlich hatte sie am meisten unter mir zu leiden.
»Die verstehen doch nur, wenn du ihnen die Faust unter die Nase reibst!« kommentierte Mutter meine »Brandrede«. Damit war die Sache für sie erledigt. Robert war unschlüssig, ob er stolz auf mich sein sollte oder ob es sich bei meinem Kirchenauftritt nur um eine weitere Peinlichkeit handelte.
Michaela hatte man am nächsten Tag aus der Probe gerufen. Zusammen mit Anna (die Frau mit der Narbe), dem Langhaarigen, dem Pfarrer Bodin, dem Forum-Mann und noch ein paar Frauen, die wir am Vorabend kennengelernt hatten, wurde sie vom ersten Sekretär der SED -Kreisleitung zu einem Gespräch ins Rathaus geladen. Michaela erzählte von dem alten Rathaussaal mit seiner Holzdecke, dem Sitzungszimmer mit den alten Möbeln und wie erschrocken sie beim Anblick Naumanns, des 1. Sekretärs, gewesen sei. Aus solcher Nähe habe sie ihn noch nie gesehen.
Der zerquetscht einen, ohne mit der Wimper zu zucken, habe sie gedacht. Die Chefs der Blockparteien hätten mit gesenkten Köpfen dagesessen und wären regelrecht zusammengezuckt, wenn Naumann das Wort an sie gerichtet habe. Nur der CDU -Mann, dessen Namen sie sich nicht hatte merken können (Piatkowski), habe sie unverhohlen gemustert. Der Bürgermeister dagegen habe vor Aufregung viel zu laut geredet. Naumann habe mehrmals wiederholt, wie sehr ihn die erste Demonstrationin unserer Stadt bewege, was ihr, Michaela, etwas von der Angst genommen habe. Sie habe die ganze Zeit an Robert denken müssen. Piatkowski hingegen habe darauf beharrt, daß sie hier über eine illegale, ungenehmigte Demonstration sprächen, die Menschenleben gefährdet habe, was er als Christ mit seinem
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