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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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der Mitte, über den zusammengeschobenen Schreibtischen, hing eine Lampe, unter der sich die Uniformierten nach vorn beugten, als wollten sie ihre Gesichter verbergen. Tresen und Küchentür waren mit übereinandergestellten Tischen und Stühlen verbarrikadiert.
    Ich lief einen Halbkreis, weil mir nicht klar war, von welcher Seite ich mich ihnen nähern sollte. Immer hatte ich einen Rücken vor mir, sah in eine Schublade mit Stempeln, Schlüsselbund und Petschaft. Neben einer Aktentasche glänzte eine metallene Brotkapsel, im Papierkorb lagen zwei Apfelgriebse. Im nächsten Augenblick fürchtete ich, in einen Hinterhalt geraten zu sein. Blond erkannte mich nicht oder tat wenigstens so. Er hob den Arm, seine Hand öffnete sich, ich reichte ihm die Ausweise.
    Es war, als erinnerte ich mich an einen Traum. In diesem Moment sahen die beiden anderen Uniformierten von ihrem Blattauf, und im Schein der Lampe stellte ich fest, daß es sich um Schwarz und den Dicken handelte. Das Trio, zu dem ich mich am 4. November ins Auto gesetzt hatte, war also komplett.
    Ich dachte nicht ernsthaft an Flucht. Ich sah nur zur Tür, als müßte dort jemand stehen, der uns den Rückweg versperrt. Ich rief Robert heran.
    »Sind
Sie
schon drüben gewesen?« fragte ich und sah Blond dabei zu, wie er das in meinen Ausweis geklebte Leporello 338 bis zur letzten Seite durchsah, als interessierte ihn jeder einzelne Stempel der Grenzkontrollen. Blond stempelte dann seinerseits und faltete alles wieder zusammen. Robert sagte später, ich hätte bezahlt und sogar eine Quittung erhalten, aber daran erinnere ich mich nicht. Mit derselben Geste, mit der er die Ausweise in Empfang genommen hatte, gab Blond sie zurück. Meinen Dank überhörte er wie zuvor meine Frage. Ich ging in Richtung Ausgang. Robert hielt sich neben mir. 339
    Tags darauf lieferten wir die Textbücher in Berlin ab und aßen in der Nähe des Henschel Verlags zu Mittag. Wir waren unsere alte Strecke gefahren, also nicht, wie ich es mir vorgestellt hatte, nach dem dreispurigen Asphaltstück bei Michendorf in Richtung Westberlin abgezweigt. Berlin, ich meine der Osten der Stadt, war nichts weiter als ein Vorraum, in dem man wartete, bis man hinüber in den großen Saal ging. Ich wunderte mich, warum die Kellnerin und der Mann am Tresen weiter hier im Osten arbeiteten, als stünde die Mauer noch. Nachdem wir gegessen und getrunken hatten, fuhren wir auf der Friedrichstraße dem Checkpoint Charlie entgegen, wie Robert es sich gewünscht hatte. Als wir auf die Kontrolle warteten – vor uns standen nurwenige Autos –, begriff ich zum ersten Mal den Sinn des Wortes »checkpoint«. Tscheckpeuntscharlie waren nur Laute gewesen, ein Klang, die Kaugummiblase, die im Augenblick der größten Stille, wenn das Glockenspiel vom Spasski-Turm 340 erklang, vor dem Mund zerplatzte. Ich fragte Robert, ob er wisse, was »checkpoint« bedeute. Er wußte es. Michaela sagte, ich solle nicht den Oberlehrer geben. Ausweis, Blick, Ausweis, danke, ab. Kein Blättern nach dem Stempel, nichts. Michaela glaubte, die eigentliche Kontrolle stehe uns noch bevor. Ich bog nach rechts ab. Ich hatte keine Ahnung, wie ich fahren sollte. Wir wollten nach Westberlin, und jetzt waren wir in Westberlin. Verstehen Sie? Westberlin hieß ankommen, im Westen sein, nicht herumirren.
    Nach einer Stunde strandeten wir am unteren Ende des Kurfürstendamms, wo ich eine Parklücke fand und wir in einer Bank unser Begrüßungsgeld abholten. Dann liefen wir auf dem Ku’-damm herum, verloren in den Nebenstraßen die Orientierung und landeten auf einer anderen großen Straße mit vielen Geschäften. Dort betraten wir unter Michaelas Führung einen Buchladen, in dem mehrere Stapel eines Romans 341 von Umberto Eco vom Fußboden emporwuchsen. Lachen mußte ich, als ich vor einem Supermarkt diese überdimensionierten Einkaufskörbe auf Rädern sah. 342 Prompt weckten sie in mir die Lust, einen Vorrat zu erhamstern, um dann tagelang das Haus nicht mehr verlassen zu müssen.
    Später fanden wir uns in einem Kaufhaus wieder, in dem es viel zu warm war und wir, unsere Sachen überm Arm, von Etage zu Etage liefen, als suchten wir etwas Bestimmtes. Wir trenntenuns für eine Dreiviertelstunde, als Michaela auf die Idee kam, einen Jugendweiheanzug für Robert zu kaufen. Sie händigte mir zwei Fünfzig-D-Mark-Scheine aus und schob Robert vor sich her zur Rolltreppe.
    Ich sah ihnen nach, ich hatte keine Lust, eine Dreiviertelstunde allein zu bleiben.

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