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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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glauben, ihm sei es um mich persönlich gegangen. Ich zuckte mit den Schultern. »Nein, mein Lieber«, sagte sie, »dahinter stecken Strategie und Taktik. Ist vielleicht jemand kurz ins Zimmer gekommen und hat euch gesehen?«
    Ich verneinte, erwähnte nun aber die Sluminski. Bei diesem Namen sprang Michaela auf. »Was hatte denn die dabei zu suchen?« rief sie.
    Schon als ich Jonas’ Worte wiederholte, trat Michaelas Stirnader hervor. »Vorerst die Geschäfte weiterführen? Die? Die Parteisekretärin?«
    »Als Verwaltungsdirektorin«, sagte ich.
    »Und du?« rief sie. »Was hast du getan?«
    Ich versuchte mich an meine Worte zu erinnern. »Nichts hast du getan«, rief sie, bevor ich antworten konnte, »nichts, gar nichts!« Michaela sah mich an, ihr Kopf schien zu zittern, sie wollte weiterreden, schwieg jedoch, als wagte sie nicht auszusprechen, was sie dachte, und verließ das Zimmer.
    Mir war bereits jenes Empfinden abhanden gekommen, das Michaela in solchem Übermaß besaß. Ich war taub, stumm und gefühllos geworden. Ich spürte die Verletzungen nicht mehr.
    Als ich am Ende der Woche nichtsahnend Mutter anrief, war das erste, was sie fragte: »Hast du es gewußt? Hast du?«
    »Was?« fragte ich. Und als sie nichts sagte, fragte ich: »Was soll ich gewußt haben?« Statt zu antworten, legte meine Mutter auf.
    Ich rief wieder an. Ich wußte, daß sie
das
nicht überleben würde! Ich hatte keine Hoffnung, aber sie nahm ab.
    »Mutter!« rief ich. Wahrscheinlich habe ich niemals so flehentlich geklungen.
    »Von wegen Schauspielerei! In einem
Stoff
laden arbeitet Vera! Eine
Verkäuferin
! Und
du
hast es gewußt! Stimmt’s?«
    Ich war glücklich,
diesen
Vorwurf von ihr zu hören. 336
    »Du wolltest es doch glauben!« rief ich. »Warum hast du dich denn nie gewundert, daß Vera dir keine Kritiken schickt?!«
    Sie habe immer gedacht, sagte meine Mutter, die seien von der Staatssicherheit aus den Kuverts genommen worden.
    Zum Schluß sagte sie: »Ich verlange nur eins, nicht von meinen Kindern betrogen zu werden. Das hält man doch nicht aus, Enrico, in der eigenen Familie. Wer soll denn das aushalten?« Dann legte sie auf.
    Ich ging nach Hause. Auf dem Weg dachte ich zum ersten Mal wieder an Emilie Paulini, die wohl an einem der vergangenen Tage beerdigt worden war.
    Ihr
    Enrico T.

 
     
    Donnerstag, 28. 6. 90
     
    Liebe Nicoletta!
    Warum, Nicoletta, sind Sie mir so gegenwärtig geblieben, so sehr, daß es mich manchmal erschauern läßt? Wie oft male ich in Gedanken Ihr Porträt, an das ich mich so gut erinnere! Fieberhaft, mit ungesundem Eifer, rufe ich Ihre Gegenwart wach. Mir gelingt das erschreckend gut, und danach, wenn ich mich alleine wiederfinde, erscheint mir meine eigene Gesellschaft unerträglich. Und dann schreibe ich Ihnen.
    Zwei Wochen nach Maueröffnung gab es außer uns niemanden mehr, der noch nicht im Westen gewesen war. In Roberts Klasse hatten schon alle »Batman« gesehen. Michaela redete sich jedesmal heraus. »Der Westen läuft uns schon nicht weg«, sagte sie, hier aber gebe es Arbeit in Hülle und Fülle, womit sie Sitzungen meinte, von denen sie beinah täglich eine besuchte oder bei uns zu Hause abhielt. Ihre Idee war es, ein Mitteilungsblatt herauszugeben, das allen Arbeitsgruppen des Neuen Forums Veröffentlichungen ermöglichen sollte. In Michaelas Augen hieß das: Ungerechtigkeiten und Mißstände, wie den Fall Sluminski, publik zu machen, weil es ja sonst keiner tun würde.
    Als mir die Chefdramaturgin den Auftrag erteilte, mehrere Kartons mit Textbüchern zum Henschel Verlag nach Berlin zubringen, willigte ich vor allem deshalb ein, weil ich mir Sorgen um Vera machte. Ich ahnte, was die Maueröffnung für sie bedeutete. Ihre kleinen und großen Lügen würden nun platzen. 337
    Als ich Robert einlud mitzukommen, umarmte er mich zum ersten Mal. Nun wollte auch Michaela nach Berlin.
    Zuvor jedoch sollte meine Selbstbeherrschung auf die Probe gestellt werden.
    Im November brauchte man noch einen Stempel, um über die Grenze zu kommen. Robert begleitete mich zu einer provisorischen Polizeistelle, die in dem Flachbau hinter der Kaufhalle eingerichtet worden war (Michaela hatte es abgelehnt, vor diesen Leuten je wieder als Bittstellerin zu erscheinen).
    Da alles tot aussah, hatte ich die Tür für verschlossen gehalten und nur an ihr rütteln wollen, sie dabei aber aufgerissen. Es roch nach Mittagessen. Der Raum, den wir durch eine Flügeltür betraten, war dunkel wie eine Kirche. Nur in

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