Neue Leben: Roman (German Edition)
Therapieschritte zu erklären. Im Grunde sagte ich dasselbe wie vor drei Wochen in Berlin, als ich von Thea zur Rede gestellt worden war.
Ich war der einzige, der an diesem Tag ein paar Bemerkungen über das Geld machte. »Der Kurs von D-Mark zu Ostmark beträgt in den Westberliner Wechselstuben eins zu sieben.« Das war eine Behauptung, ich wußte es nicht genau, aber Vera hatte es einmal erwähnt. Zudem erfand ich einen Mindestlohn von 11 D-Mark pro Stunde und sagte, nun könne sich jeder ausrechnen, wie viele Tage man im Westen arbeiten müsse, um auf ein hiesiges Monatsgehalt zu kommen. »Die meisten von uns«, sagte ich, »werden wohl keine zwei Tage dafür brauchen!« Dafür erhielt ich Applaus. Nur die Frau, auf deren Schulter sich die Weinende gestützt hatte, rief, Geld sei doch nicht alles.
»Wir haben also nur zwei Möglichkeiten, entweder wir schließen die Mauer wieder, oder wir führen auch hier die Marktwirtschaftein, andernfalls wird keiner bleiben.« Meine Conclusio mußte ich wiederholen, weil das Wutgeheul des roten Haufens losbrach. Es waren Beschimpfungen, wie man sie vielleicht noch zu Beginn des Jahrhunderts Streikbrechern zugerufen hat. »Kapitalistenknecht« war dabei, auch »Reaktionär« und »Konterrevolutionär«. Eine zieh mich, wohl in Anspielung auf meine weiße Ordnerarmbinde, einen Weißgardisten. Die Frauen behielten die Oberhand, bis sich die große Menge erneut zu einem »Schämt euch was!« aufgeschaukelt hatte und sie übertönte.
Je schneller wir begreifen würden, rief ich, daß es nur ein Entweder-Oder gibt, desto besser wäre es für uns alle. »Oder wollt ihr als Bettler nach Paris fahren?« Weil ich das nächste Stichwort nicht fand, trat ich vom Mikro zurück und wandte mich ab, der Applaus für den letzten Satz nahm dadurch noch zu. Als Begleitmusik zu meinem Abgang hatten einige Frauen die »Internationale« angestimmt, ein Gesang, der sich, kaum daß ich wieder auf dem Marktpflaster stand, über den Applaus erhob. Zuerst gab es Pfiffe, dann aber begann die Mehrheit selbst die »Internationale« zu singen, so wie ich es bereits in Leipzig erlebt hatte.
Ich hockte mich auf einen der Beton-Blumenkübel und hoffte, daß der ganze Zirkus schnell vorübergehen möge.
Sie werden wohl den Verdacht nicht unterdrücken können, daß ich hier versuche, mich post festum ins rechte Licht zu rücken, mich zum einzigen zu stilisieren, der bereits damals verstand, wohin der Hase läuft.
Aber dem war nicht so. Wie beim Schachspiel versuchte ich nur, ein paar Züge vorauszuspekulieren. Ich hatte nicht mal die Vereinigung vor Augen, die damals schon von einigen gefordert wurde. Und ich hatte wie gesagt auch keinen Begriff von Zukunft. Denn meine persönliche Zukunft hatte sich durch den Fall der Mauer in nichts aufgelöst. Hätte ich nicht Michaelazuliebe auf die Rednerkanzel steigen müssen, nie wären solche Sätze über meine Lippen gekommen. Natürlich hätte ich auch etwas anderes sagen können. Aber was? Was gab es denn sonst noch zu sagen? Es gab nichts mehr zu sagen!
Wann immer Michaela auf das Podium gestiegen war, um den nächsten Redner anzukündigen und, wie es in dem LVZ -Bericht hieß, die Demonstranten zu »Mäßigung und Anstand« aufzufordern, hatte sie frei und souverän gewirkt und mehr Beifall für ihre Schlagfertigkeit erhalten als die meisten für ihre Reden. Nun, da sie sich aus dem Pulk derer, die mit ihr reden wollten, herauswand und auf uns zukam, schien sie bedrückt. Mich würdigte sie keines Blickes. Auf der Rückfahrt kippte ihre Stimmung vollends ins Dunkle. Ich hielt es für Premierenangst.
Als ich sie zu Hause endlich fragen konnte, was denn passiert sei, sagte sie »Nichts« und zog sich in ihr Zimmer zurück. Sie weinte.
»Ist es das?« fragte sie, als ich eintrat. Sie hielt mir ein Kuvert hin. »Bist du deshalb so?« Ich erkannte Nadjas Handschrift auf dem Kuvert. »Du mußt keine Rücksicht nehmen«, sagte Michaela, »wir kommen schon zurecht.« Sie schneuzte sich.
Es war einer der seltenen Momente meines Lebens, in denen mein Gewissen rein war, bereit für jede Art von Verhör.
Ich bat Michaela, das Kuvert zu öffnen. Sie schüttelte den Kopf. Bitte, sagte ich. Nein, sagte sie. Das wolle sie sich nicht antun.
Mit der Nagelfeile, die auf ihrem Tisch lag, schlitzte ich den Umschlag auf, faltete das Blatt auseinander und begann vorzulesen. Gleich zu Anfang schrieb Nadja, sie wisse bereits, daß ich eine Familie habe. Sie selbst lebe mit
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