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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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Jaroslav, einem Tschechen, zusammen, und Ende Februar erwarte sie ihr erstes Kind. Sie erkundigte sich nach meinem Manuskript und klagte über ihre Arbeit.
    Michaela schwieg. Auch als ich den Brief vor ihr ablegte, rührte sie sich nicht. Schließlich fragte sie, ob sie die Briefmarken haben dürfe. Dann faltete sie den Brief wieder zusammen und steckte ihn zurück ins Kuvert.
    »Und woran liegt es dann?« Sie sah mich an.
    »Was?« fragte ich.
    »Daß du so bist!«
    Bevor ich antworten konnte, klingelte es bei uns Sturm. Meine Mutter stand da und reckte ihr Kinn, um überhaupt noch unter ihrer Mütze hervorsehen zu können. Aus ihrer Rechten ragte drohend ein Alpenveilchen empor, mit der Linken hielt sie ein hin und her schaukelndes Einkaufsnetz hoch, in dem ich die vertraute Springform erkannte.
    »Die Gerechtigkeit siegt!« rief sie. Sie sprach sehr laut und benahm sich überhaupt wie eine Schwerhörige, jede ihrer Bewegungen begleitete irgendein Krachen, Schaben, Scheppern.
    Robert aß hingebungsvoll den Käsekuchen und störte sich nicht an Mutters Gerede. Der Fall der Mauer war ihr persönlicher Triumph, und über uns machte sie sich lustig, weil wir noch nicht im Westen gewesen waren. Sie wollte unbedingt mit uns nach Bayern fahren, weil dort das Begrüßungsgeld am höchsten sei 335 , und zusammen ergebe das 560 D-Mark, eine Summe, mit der man etwas anfangen könne.
    Später im Theater gestand mir Mutter, wie sehr Michaelas Aussehen sie schockiert habe. Ob wir uns denn nicht freuten?
    Bis auf eine Frau, von der niemand wußte, wer sie war, blieb die gesamte erste Reihe leer. Den Rang hatte man gar nicht erst geöffnet. Von den knapp 60 Zuschauern zählten etwa 15 zu NorbertMaria Richters Entourage und etwa 30, so wie wir, zum Anhang der Schauspieler.
    Zu Beginn folgte das Publikum den alten Reflexen und beklatschte jede Spitze. Bald aber verlor sich dieser Enthusiasmus, als sei den Leuten endlich zu Bewußtsein gekommen, was in den letzten Tagen geschehen war.
    Nach der Pause, etliche waren nicht mehr auf ihren Platz zurückgekehrt, siechte das Stück vollends dahin. Die Schauspieler wurden immer schneller, weil die Reaktionen auf ihre Pointen ausblieben.
    Zum Schluß schaffte es Norbert Maria Richter kaum noch, sich zu verbeugen.
    Am Dienstag wurde ich mal wieder in die Intendanz gerufen.
    Jonas und die Sluminski saßen hinter dem Tisch, als erledigten sie gemeinsam Hausaufgaben. Beide erhoben sich gleichzeitig, wir gaben uns wortlos die Hand und setzten uns. Jonas sah auf das Schreiben vor ihm. Seine Haare fielen ihm ins Gesicht. »Ich gehe«, sagte er. Und dann, indem er den Kopf hob und seine Haare zurückfliegen ließ: »Ich habe gekündigt.«
    Er genoß meine Überraschung. Der Sluminski glänzte das Glück in den Augen. Ob es wegen »Krähwinkel« sei, fragte ich. Er schüttelte den Kopf, und auch die Sluminski bewegte ihren leicht.
    »Was soll ich denn noch hier?« sagte er und sah mich mit seinen ewig feuchten Augen an, als läge ihm tatsächlich etwas an einer Antwort.
    »Ja«, sagte ich. »Die Frage stelle ich mir auch.«
    Statt ihm alles Gute zu wünschen, die Hand zu reichen, aufzustehen und zu gehen, blieb ich sitzen. Ich bedaure seinen Weggang, sagte ich. Aber verstehen könne ich ihn sehr gut.
    Er wisse, sagte er, was man über ihn tratschen, wie man überihn herfallen werde, aber zu bereuen habe er nichts. Wenn er auch nur die geringste Chance sähe, hier noch etwas Sinnvolles zu tun, würde er bleiben. Aber davon könne ja keine Rede mehr sein. Ich nickte. Und dann sagte er, daß die Sluminski vorerst die Geschäfte weiterführen werde, die daraufhin aufsah und sagte, daß ihr dabei jede Unterstützung willkommen sei. Ich nickte wieder. »Oder willst du das machen?« fragte Jonas und grinste wie früher. »Willst du?« Ich schüttelte den Kopf, und dann gaben wir uns wieder die Hand.
    Als ich in die Kantine kam, wurde Jonas’ Weggang bereits als Sieg gefeiert. Ich saß abseits wie einer vom alten Regime und war froh, daß man mich in Ruhe ließ.
    »Jonas geht«, sagte ich zu Michaela, die nicht im Theater gewesen war. Und weil sie mich ansah, als wolle sie sich keinen Bären aufbinden lassen, fügte ich hinzu: »Das hat er mir selbst gesagt.«
    Ich konnte ihr nicht erklären, warum ausgerechnet mir diese Aufmerksamkeit zuteil geworden war. Michaela vermutete dahinter einen Trick von Jonas, irgend etwas ganz Durchtriebenes. Da ich schwieg, fragte sie, ob ich denn tatsächlich so eitel sei zu

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