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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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konnte von Glück reden, daß nichts passierte, denn ich überfuhr bei Rot einen Fußgängerüberweg. Schließlich war ich gerade zur Stelle, als jemand abfuhr. Ich parkte mit einem Hinterrad auf dem Fußweg. Die kalte Luft tat gut. Das Benzin roch in Westberlin tatsächlich wie herbes Parfüm.
    Die Frau an der Kasse sagte zu meiner Überraschung, ich käme gerade rechtzeitig.
    Michaela und Robert saßen nahe am Eingang. Wegen der Sesselglaubte ich zuerst, wir hätten Logenplätze. Gleich darauf ging das Licht an, und Michaela lachte auf, weil ein Verkäufer neben uns erschien, der genau das Eis anbot, das wir eben in der Reklame gesehen hatten. Mir wollte es nicht in den Kopf, daß man in solchen Sesseln Eis essen durfte, noch dazu im Dunkeln. Eine einzige Kinokarte plus Eis, überschlug ich anhand des Restgeldes, kostete soviel wie meine Handschuhe.
    Nach der Vorstellung war Robert vollkommen glücklich, und Michaela schien es auch zu sein. Auf dem Stadtplan, den Michaela von der Kassiererin geschenkt bekommen hatte, sahen wir, wie einfach es war, zur Autobahn zu kommen. Robert hatte seinen Kassettenrecorder angeworfen und gab uns, begleitet von Milli Vanilli und Tanita Tikaram, eine komplette Inhaltsangabe des Films, als hätten wir ihn nicht gesehen. Anschließend mußte jeder seine Lieblingsszenen aufzählen. Michaela dirigierte mich. Fünf Minuten später erreichten wir die Autobahn, dahinter leuchtete der Funkturm. Ich fädelte mich in den Verkehr ein. Nach ein paar hundert Metern wechselte ich auf die mittlere Spur.
    Michaela rief, ich solle aufpassen und nicht so schnell fahren, das sei doch Wahnsinn. »Wie denn?« rief ich. »Was soll ich denn machen?!« Ich wollte bremsen, wagte es aber nicht! Neben uns, vor uns, hinter uns – wir rauschten mit ihnen dahin, so schnell wie nie zuvor im Leben, eine rasende Meute, und wir mittendrin. Ich versuchte den Sicherheitsabstand zu vergrößern, doch sofort schoß von der Nebenspur ein Auto hinein und verschlimmerte meine Not. Mir blieb keine Wahl, ich mußte so fahren wie die anderen. Da aber alle das Tempo hielten, konnte es nicht so gefährlich sein, jedenfalls nicht so sehr, wie wir fürchteten. Allmählich beruhigte ich mich.
    Als der Abzweig zum Flughafen kam, war mir klar, wir fuhren nicht nach Süden, sondern nach Norden. Auch Michaela hatte den Irrtum bemerkt. Sie streckte die Beine aus und suchtenach einer bequemen Lage. Robert war verstummt und sah, die Ellbogen auf unseren Rückenlehnen, nach vorn.
    Wir rasten also dahin, durch die weiten Kurven und die Tunnel – ein bißchen wie Achterbahn. Statt bis nach Hamburg zu fahren, folgte ich dem Schild, das die letzte Ausfahrt vor der Grenze anzeigte, und kehrte um. Jetzt hatten wir ein noch längeres Stück dieser Asphaltautobahn vor uns. Im Radio unterbrachen sie selten die Musik.
    Während der Rückfahrt dachte ich fortwährend ans Meer, sah Schiffe über den Ozean fahren und zählte mir Hafenstädte auf: Hamburg, Hongkong, Valparaiso, New York, Helsinki, Vancouver, Genua, Barcelona, Leningrad, Istanbul, Melbourne, Alexandria, Odessa, Singapur, Auckland, Marseille, Rio de Janeiro, Kapstadt, Aden, Bombay, Rotterdam, Venedig. Ich sah Schiffe, Ozeanriesen, die an girlandengeschmückten Kaimauern anlegten. Der Radioempfang war schlechter und schlechter geworden, doch auf Mittelwelle hielt sich ein Sender: Musik und Worte klangen gleichermaßen zauberhaft und fern, ich sah Terrassen über der Stadt mit Ausflugsgästen und Lampions und Feuerwerk. Ich fuhr bereits in einer unbekannten Weltgegend. Wie Jim, der Sklave aus Huckleberry Finns Abenteuern, glaubt, in der Ferne die Lichter von Kairo und den Pyramiden zu erblicken, so hätte ich mich nicht gewundert, wenn plötzlich ein Hinweisschild nach St. Louis oder New Orleans erschienen wäre. 344
    Ich weiß nicht mehr, was ich sah, als ich den Wagen durch Leipzig steuerte. Das erste, woran ich mich wieder erinnere, ist Michaelas Handbewegung, die vom Lichtschalter im Flur direkt zu meiner Stirn führte. »Du hast ja Fieber!« sagte sie und präsentierte mir den Schweiß an ihren Fingerkuppen.
    »Ich bin krank«, antwortete ich.
    »Schrei doch nicht!« sagte sie.
    »Ich bin krank!« wiederholte ich und flüsterte es gleich darauf noch einmal, als dürfte ich es nicht vergessen.
    »Ich bin krank« war genau jene Formel, nach der ich in den letzten Wochen vergeblich gesucht hatte. Eilig wusch ich mir Gesicht und Hände, zog mich aus und legte mich ins Bett, um endlich

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