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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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Schiff, Meereswellen und vier Pfeile, nach oben und unten, nach rechts und links. Das waren die wirkenden Kräfte, Gewichtskraft und Auftriebskraft, Schubkraft und Wasserwiderstand. Die Trägheit eines Körpers ist um so größer, je größer die Masse des Körpers ist. Jemand kicherte. Petersen rief Peter Ullrich zu, daß er gleich Gelegenheit bekomme, das neuerworbene Wissen anzuwenden.
    Titus wußte nicht, ob ihm schlecht war, weil er Hunger hatte oder weil er vorhin sein Brot zu hastig gegessen hatte. Oder weil sein Orientierungssinn gestört worden war, oder weil er sich in einer Art Schwerelosigkeit befand, einer Leere, in der man sich allein auf die Wissenschaft und ihre Gesetze verlassen konnte, in der Meinungen nicht zählten. Seine Dreitausendmeterzeit gehörte zur objektiven Realität, auch sein Tor, Newton war real, die Gleichungen waren real.
    »Jeder Körper«, sagte Petersen und warf die Kreide auf den Tisch, »beharrt so lange in geradliniger, gleichförmiger Bewegung, solange die resultierende Kraft aller einwirkenden Kräfte null ist. Kommen Sie vor, da liegt die Kreide.«
    Peter Ullrich schrieb weiter, als hätte er Petersens Zeigefinger nicht gesehen, erhob sich dann aber plötzlich und ging mit seinem schwankenden Gang nach vorn.
    »Nach dem Trägheitsgesetz«, hob Petersen die Stimme, »bewegt sich das Schiff geradlinig, gleichförmig. Warum befindet es sich nicht in Ruhe?« Damit verließ er Peter Ullrich und setzte sich wieder auf die freie Bank links vorn. Es war so still, daß Titus die anderen atmen hörte.
    Er sah sich anstelle von Peter Ullrich dort stehen, sah, wie sein eigener Blick über die Klasse flog und an Petersen hängenblieb.
    »Ich kann diesen Vortrag nicht halten.« Und sofort verbesserte er sich. »Ich möchte diesen Vortrag nicht halten.«
    »Warum?« bellte ihn Petersen an.
    »Weil ich den Dienst an der Waffe verweigere«, antwortete Titus.
    »Was?« fragte Petersen. »Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte Titus, »ich weiß es wirklich nicht mehr, ich habe es vergessen.«
    »Palaver, alles Palaver!« rief Petersen Peter Ullrich zu. »Sie haben nichts verstanden, nichts verstanden. Warum befindet sich das Schiff nicht in Ruhe?« Petersen wandte sich an die Klasse. Zuerst meldete sich Joachim, dann Martina Bachmann.
    Titus sah den leeren Ausdruck in Peter Ullrichs Gesicht, als er an Martina Bachmann vorbei zu seinem Platz zurückkehrte.
    Ich kann nicht mehr, ich kann es nicht, dachte Titus, es ist so sinnlos. Und was lag schon an so einem Gerede. Nie zuvor hatte er die Nichtigkeit und Sinnlosigkeit solcher Meinungen und Behauptungen stärker gespürt als in diesem Moment. Ihm kam es vor, als wüßte er nicht mehr, wo oben und wo unten sei, und von vorn, vom Lehrertisch aus, würde er es noch viel weniger wissen.
    Petersen lobte Martina Bachmann, ihren Sinn für die konkrete Vorstellung, für die Welt des Realen. Mit einem Lachen,das aussah wie Weinen, und merkwürdigen Schulterbewegungen ging sie zu ihrer Bank.
    Petersen sah auf die Uhr. »Keine Angst, Titus, ich habe Sie nicht vergessen«, sagte er und sprach nun davon, daß sie aus einem allgemeinen Gesetz, dem Newtonschen Grundgesetz, ein spezielles Gesetz, nämlich das Trägheitsgesetz, abgeleitet hätten. Er nannte das deduktiv. »Es besteht jedoch ein grundlegender Unterschied zwischen mathematischen Sätzen und physikalischen Gesetzen.«
     
    [Brief vom 9. 7. 90]
    Spielte Petersen auf ihn an, auf den Gegensatz von Sätzen und Gesetzen? Mit jedem Wort, das Petersen aussprach, breitete sich die Leere in Titus weiter aus. Es grenzte an ein Wunder, daß die drei maschinengeschriebenen Seiten gerade in dem Augenblick griffbereit vor ihm lagen, da Titus seinen Namen hörte. Beim Aufstehen tastete er nach dem Hemd, ob es ihm nicht hinten aus der Hose hing.
    Noch blieb ihm Zeit, eine Entscheidung zu fällen. Als er dann vorne stand, spürte er plötzlich seine Knie. Sie zuckten, sie zitterten, etwas, was er nur als Redewendung kannte. Er kümmerte sich nicht weiter darum, denn man konnte nur seinen Oberkörper sehen. Titus staunte, wie vollkommen unvorbereitet ihn diese Prüfung traf. Niemand würde es ihm glauben. Die Quälereien waren sinnlos gewesen, vollkommen sinnlos. Jeder Augenblick löschte den vorherigen aus. Titus sortierte die drei Blätter, nicht einmal das hatte er geschafft – und legte sie gleich wieder vor sich hin, aus Angst, auch seine Hände könnten zu zittern

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