Neue Leben: Roman (German Edition)
Unteroffizier Thomas, sein Gruppenführer, den Kopf mit dem Stahlhelm gegen die Wand des SPW gelehnt. Ihn würde man für die zerstörten Motoren verantwortlich machen und nach Schwedt ins Militärgefängnis stecken. Denn Unteroffizier Thomas hätte dem Gefreiten Türmer verbieten müssen, den Motor anzulassen, ganz egal wie sehr die Gruppe fror – Mitte April waren die Nächte noch kalt, zumindest im Wald; die Pfützen in den Spurrinnen waren morgens von einer dünnen Eisschicht überzogen. Aber kein Fahrer ließ seine Leute frieren.
Der Zeiger erreichte die Mitte des roten Feldes. Die Hände des Gefreiten Türmer strichen von oben herab das Lenkrad entlang, bis sie sich über seinem Schoß berührten. Mit der Rechten bedeckte er die Radnabe und hätte beinah auf die Hupe gedrückt. Wie oft hatte er so den Vorausfahrenden gewarnt, wenn dieser von der Straße abkam. Er selbst war auf die Aufmerksamkeit des hinter ihm Fahrenden angewiesen, falls er einnickte.
Denn wer stundenlang die roten Rückleuchten als einzige Orientierung hat, wird davon hypnotisiert. Er hatte Bahnübergänge oder haushohe Schrotthaufen halluziniert – und dann die Luke über seinem Kopf aufspringen lassen, um von der Kälte wach gerüttelt zu werden, er hatte sich beschimpft und ins Gesicht geschlagen. Trotzdem wollte er nichts anderes sein als Fahrer. Allein die Fahrer durchwachten die endlosen Nächte, während alle anderen schliefen, eingelullt von dem Rattern und der Wärme der Motoren. Der Gefreite Türmer war regelrecht betroffen, ja gerührt gewesen, wie fraglos die anderen ihm von Beginn an vertraut hatten, als wäre es selbstverständlich, daß er dieses tanzende, schlingernde Schiff sicher durch die Nacht steuerte. Darin hatte der Stolz der Fahrer seinen Ursprung. Sie waren wie Väter zu ihren Familien, sie, die Fahrer, waren es, die der Gruppe Geborgenheit schenkten.
Der Gefreite Türmer mußte sich nicht nach ihnen umdrehen. Das leise Schnarchen gehörte zu dem Soldaten Sommer, das Wimmern zu dem Gefreiten Kapaun, ein Wimmern, das so gar nicht zu dessen Bärenstatur und Lachen passen wollte. Soldat Petka, der mit seinem hutzligen Gesicht und dem Stahlhelm aussah wie ein Pilz, lachte manchmal im Schlaf. Nein, nie
[Brief vom 11. 7. 90]
würde er es über sich bringen, sie zu verraten und der Armee zu schaden. Nicht weil er es geschworen hatte, das wäre lächerlich, nein, der Gefreite Türmer war dankbar, weil bei der Armee – ob man das nun wahrhaben wollte oder nicht – alles an seinem Platz war. Der Gefreite Türmer mußte pinkeln. Er kurbelte die Jalousien über den Motoren auf. Dem Schalter gab er einen Klaps, so daß die Motoren verstummten. Er zog die neuen Stiefel an, die der Schreiber ihm verschafft hatte. Sie waren etwas zu groß, nur ein oder zwei Nummern. Aber das machte nichts.
Der Gefreite Türmer drehte den Lukengriff über seinem Kopf und stemmte sich, die Stiefel schon auf dem Sitz, nach oben. Den Hintern auf dem Lukenrand, zog er die Beine an und drehte sich heraus, drückte mit den Fingerkuppen die Luke herab, verschloß sie vorsichtig und ließ den kostbaren Vierkant lautlos in die rechte Beintasche gleiten. Er tastete hinab zum Fußlauf und hockte sich hin. Er hatte ein paar Lichter erwartet, zumindest im Zelt für die Wachen. Wie sehr wünschte er sich jemanden, mit dem er rauchen und reden konnte. Und vielleicht auch etwas trinken.
Der Waldboden empfing den Gefreiten Türmer lautlos, als wäre er barfuß gesprungen. Nur das Rascheln der Uniform war zu hören, und bei jedem Schritt das »schluppschlupp, schluppschlupp« der Stiefelschäfte.
Die kalte Waldluft erfrischte den Gefreiten Türmer. Von überall her strömten die Gerüche auf ihn ein, sie erhoben sich vom Boden, sie ließen sich von den Zweigen auf ihn fallen, er mußte nur die Hand ausstrecken, um die Luft in ihrer feuchten Körperlichkeit zu fassen.
Er öffnete die oberen Knöpfe seiner Wattejacke, griff mit beiden Händen in den Ausschnitt von Pullover und Unterhemd und leitete einen frischen Luftzug auf seine Haut. Plötzlich konnte er riechen, was sein Körper in der Winteruniform abgelagert hatte, vor allem den Zigarettenrauch, der vom kalten Eisen des SPW s gebeizt war, aber auch den Dunst der Eßgeschirre, in denen die braune Sauce mitsamt den Kartoffelresten klebte.
Der Gefreite Türmer suchte nach den Wachen, fand aber niemanden. Trotzdem wollte er nicht hier pinkeln, wo man ihn überraschen konnte. Außerdem war es angenehm
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